Das siebte Kreuz
Gassen, er kam in einen anderen Stadtteil. Es roch nach Erde und Gärten. Er kletterte über ein niedriges Gitter in einen Winkel aus Taxushecken. Er setzte sich hin und atmete, dann kroch er noch ein Stück weiter, dann blieb er liegen, weil seine Kraft plötzlich ausging.
Dabei hatte er nie so klar gedacht. Erst jetzt kam er zu sich. Nicht nur nach der Flucht aus dem Fenster, sondern seit der Flucht überhaupt. Wie furchtbar kahl jetzt alles war und wie kalt und wie einfach ausrechenbar die Unmöglichkeit. Er war bis jetzt seine Kante abgelaufen unter einem Zwang, den er nicht mehr verstand, wie ein Nachtwandler. Jetzt war er endgültig aufgewacht und sah, wo er war. Ihm war schwindlig, er klammerte sich an die Zweige. Bis jetzt war er unversehrt durchgekommen, von jenen Kräften geführt, die nur dem Nachtwandler zukommen und beim Erwachen abströmen. Er hätte vielleicht sogar auf diese Art seine Flucht zum guten Ende bringen können. Doch leider war er hellwach, durch den bloßen Willen war der verlorene Zustand unfaßbar. Er fror vor Angst. Er beherrschte sich aber, obwohl er allein war. Ich werde mich jetzt und immer beherrschen, sagte er sich, mich bis zuletzt anständig aufführen. Die Zweige rutschten ihm durch die Finger, er behielt etwas Klebriges in der Hand und sah darauf: eine große Blüte, wie er sich nicht erinnern konnte, je eine gesehen zu haben. So stark war das Schwindelgefühl einer heftig schaukelnden Erde, daß er rasch wieder nach den Zweigen griff.
Wie glockenwach er war! Wie schlecht das war, völlig wach zu sein. Ganz jämmerlich war er verlassen bei diesem Aufwachen von all seinen guten Geistern.
Sein Fluchtweg war wohl festgestellt, sein Signalement wohl durchgegeben. Vielleicht gruben schon Radio und Zeitungen seine besonderen Kennzeichen unablässig in aller Menschen Gehirne. In keiner Stadt war er mehr gefährdet als hier; dicht davor, aus dem läppischsten Anlaß zugrunde zu gehen, aus dem allergeläufigsten, weil er sich auf ein Mädchen verlassen hatte. Jetzt sah er Leni so, wie sie damals in Wahrheit gewesen war, weder fliegend noch hausbacken, sondern bereit, jedwedem Liebsten zulieb durchs Feuer zu gehen oder Suppen zu kochen, jedwede Flugblätter zu verteilen. Und wäre er damals ein Türke gewesen, sie hätte auch ihm zulieb den Heiligen Krieg in Niederrad austrommeln helfen.
Auf dem Weg neben dem Gitter kamen Schritte. Ein Mensch ging vorbei mit einem Stock. Der Main mußte nah sein, er war nicht in einem Garten, sondern in einer Uferanlage. Er erkannte jetzt hinter den Bäumen die glatten, weißen Häuser des Obermainkais. Er hörte das Rollen der Züge und jetzt auch zum erstenmal, obwohl es noch ziemlich dunkel war, das Klingeln einer Elektrischen. Er mußte weg von hier. Seine Mutter war sicher bewacht. Die Frau, die Elli, die seinen Namen hatte, war sicher bewacht. – Ein jeder konnte bewacht sein, der je in dieser Stadt ein Steinchen in sein Leben hineingesetzt hatte. Bewacht waren seine paar Freunde, und seine Lehrer konnten bewacht sein und seine Brüder und seine Liebsten. Ein Fangnetz die ganze Stadt. Er lag schon drin. Er mußte durchschlüpfen. Zwar, diesmal war er wirklich fertig. Seine Kraft reichte kaum mehr aus, um über das Gitter zu klettern. Wie sollte er sich aus der Stadt heraus, auf dem Weg, den er gestern gekommen war und zwanzigmal weiter, bis zur Grenze durchschlagen? Da konnte er ebensogut hier hocken bleiben, bis er gefunden wurde. Er sträubte sich wütend, als hätte ihm irgendwer solchen Vorschlag zugemutet. Und wenn er auch nur noch die Kraft für eine einzige winzig kleine Bewegung hatte, auf die Freiheit hin, wie sinnlos und nutzlos diese Bewegung auch sein mochte, er wollte diese Bewegung doch noch gemacht haben. Ganz nah bei der nächsten Brücke fing man schon anzu baggern. Das muß meine Mutter doch jetzt auch hören, dachte er. Mein kleiner Bruder hört das jetzt auch.
Viertes Kapitel
1
Bevor die Nacht, die er schlaflos verbracht hatte, noch zu Ende war, stand der ehemalige Bürgermeister von Oberbuchenbach, Peter Wurz, jetzt Bürgermeister der zusammengelegten Dörfer Ober- und Unterbuchenbach, von seinem quälenden Bett auf, schlich durch den Hof in den Stall und setzte sich dort in den dunkelsten Winkel auf den Melkschemel. Er wischte sich den Schweiß ab. Seit das Radio gestern die Namen der Flüchtlinge gemeldet hatte, suchten die Männer, Frauen und Kinder des Dorfes seiner habhaft zu
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