Das siebte Tor
wurde, war die Kathedrale d’Albedo, das Depositorium
der Seelen der Toten.
Die Kathedrale, ein Werk der Kenkari-Elfen, barg
unter ihrer Kristallkuppel einen üppigen Garten mit seltenen und exotischen
Pflanzen, von denen einige angeblich noch aus der Zeit vor der Teilung
stammten – lebende Relikte einer Welt, die schon fast in Vergessenheit
geraten war. In diesem Aviarium gaukelten wie unsichtbare Schmetterlinge die
Seelen der Elfen von königlichem Geblüt zwischen den Blättern und duftenden
Blumen.
Jeder Elf, männlich oder weiblich, der einem Zweig
des Herrscherhauses angehörte, wurde ein Leben lang von seinem persönlichen Gir
oder Weesham begleitet, dem er im Augenblick des Todes seine Seele überantwortete.
Dieser Gir brachte sie in einer reichverzierten Schatulle zur Kathedrale und
gab sie in die Hut der Kenkari. Die Elfen glaubten, die Verstorbenen würde ihre
im Leben erworbene Stärke und Weisheit zum Wohl der Lebenden einsetzen und
ihnen beistehen. Eingeführt wurde der Brauch von der heiligen Elfenfrau
Krenka-Anris. Die Seelen ihrer getöteten Söhne waren aus dem Jenseits
zurückgekehrt, um ihre Mutter vor einem Drachen zu retten.
Die Kenkari-Elfen in der Kathedrale empfingen
die Gir, führten Buch über die Gestorbenen und entließen die neueingetroffenen
Seelen zu den anderen ins Aviarium. Wenigstens wurde es so gehandhabt, bis die
Kenkari erfuhren, daß Kaiser Agah’ran junge Elfen ermorden ließ, um sich der
Unterstützung ihrer unverbrauchten, starken Seelen für sein korruptes Regime zu
versichern. Daraufhin schlossen sie das Tor der Kathedrale.
Agah’ran wurde von seinem vertriebenen Sohn,
Prinz Rees’ahn, vom Thron gestürzt, mit Hilfe von Stephen und Anne von
Volkaran. Dem Kaiser gelang es zu fliehen und unterzutauchen. Die Elfen und
Menschen schlossen ein Bündnis, allerdings war das Ergebnis nur ein unsicherer
Frieden. Seine Befürworter waren ständig gezwungen, Brände zu löschen,
Aufstände niederzuschlagen und unbotmäßige Gefolgsleute zur Ordnung zu rufen.
So hatten sich größere Zwischenfälle bislang verhindern lassen.
Aber die Kenkari wußten nicht, wie es
weitergehen sollte. Ihre letzte Anweisung, die der oberste Hüter in einer
Vision von Krenka-Anris erhalten hatte, lautete, die Kathedrale geschlossen zu
halten. Das taten sie. Jeden Tag trafen sich die drei Hüter – Bruder Seele,
Schwester Buch, Bruder Pforte – vor dem Altar und beteten um Erleuchtung.
Man befahl ihnen zu warten.
Dann kam der Sturm.
Gegen Mittag erhob sich unerwartet ein starker
Wind. Bedrohliche schwarze Wolken türmten sich in den Himmeln über und unter
den Mittelreichen und verdeckten Solarus. Binnen weniger Minuten wurde es
Nacht. Das alltägliche Leben in der Stadt kam zum Erliegen, die Leute standen
auf der Straße und betrachteten angstvoll das unheimliche Schauspiel. Schiffe,
die auf den Routen zwischen den Inseln unterwegs waren, liefen den nächsten
sicheren Hafen an, ohne Rücksicht auf die jeweilige Nationalität.
Der Wind erreichte Sturmstärke. Die spröden Hargastbäume
barsten und splitterten. Kleine Häuser wurden flachgedrückt wie von einer
gewaltigen Faust, und sogar die starken Festungen der Menschen erbebten. Man
erzählte sich, selbst die Kirmönche, die nur wenig darauf geben, was bei den
Lebenden geschieht, wären tatsächlich aus ihren Klöstern gekommen, hätten den
Blick zum Himmel erhoben und in Erwartung des Weltuntergangs sich düster
zugenickt.
In der Kathedrale knieten der oberste Hüter,
Schwester Buch und Bruder Pforte vor dem Altar von Krenka-Anris, um zu beten.
Regen setzte ein, stürzte in schrägen Güssen aus
den schwarzen Wolken wie die niederfahrenden Speere einer riesigen Armee.
Hagelkörner, so groß wie der Kopf einer Kriegskeule, prasselten auf die
Kristallkuppel der Kathedrale.
»Krenka-Anris«, betete Bruder Seele, »höre
unser…«
Ein ohrenbetäubendes Krachen zerriß die Luft.
Bruder Pforte hielt erschrocken den Atem an, Schwester Buch zuckte zusammen.
Der oberste Hüter verstummte mitten im Gebet.
»Die Seelen im Garten sind unruhig«, sagte er.
Obwohl die Seelen für das Auge nicht sichtbar
waren, sah man, wie sich das Laub an den Bäumen bewegte.
Blütenblätter rieselten zu Boden.
Das Krachen wiederholte sich, laut, unheilverkündend.
»Donner?« vermutete der Hüter der Pforte. In seiner Angst vergaß er zu warten,
bis er aufgefordert wurde zu sprechen.
Der Hüter der Seelen
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