Das siebte Tor
erhob sich, um einen Blick
in das Innere des Aviariums zu werfen. Mit einem unartikulierten Schrei
taumelte er zurück und suchte am Altar Halt. Die anderen beiden eilten zu ihm.
»Was ist?« fragte Schwester Buch furchtsam.
»Die Kuppel!« Bruder Seele deutete in die Höhe.
»Sie bricht!«
Der Riß war deutlich zu erkennen. Wie ein
gezackter Blitz durchzog er die Kristallplatten, wurde länger, verzweigte
sich. Ein großer Splitter fiel herab und zerschellte.
»Krenka-Anris, rette uns!« flüsterte Schwester
Buch.
»Ich glaube nicht, daß wir es sind, die sie
errettet«, bemerkte der Hüter der Seelen. Er hatte seine Fassung
wiedergewonnen. »Kommt. Wir müssen in den unterirdischen Gewölben Zuflucht
suchen. Rasch jetzt.«
Er schritt zur Tür, und Schwester Buch und
Bruder Pforte folgten ihm auf dem Fuße.
Hinter sich hörten sie das gläserne Klingeln und
Klirren des zerspringenden Kristalls und das Stürzen der Baumriesen im Aviarium.
Der Hüter der Seelen läutete die Glocke, die die
Kenkari zum Gebet zusammenrief, nur daß sie diesmal zu ungewöhnlicher Stunde
und aus ungewöhnlichem Anlaß erklang.
»Die große Kuppel zerbricht«, teilte er den
bestürzten Brüdern und Schwestern mit. »Wir können nichts dagegen tun, es ist
der Wille von Krenka-Anris. Uns ist befohlen worden, Schutz zu suchen. Wir
haben getan, was in unseren Kräften stand, um zu helfen. Jetzt bleibt uns
nichts anderes übrig, als zu beten.«
»Was haben wir denn getan, um zu helfen?« fragte
Bruder Pforte im Flüsterton Schwester Buch, während sie hinter Bruder Seele die
Treppe zu den Gewölben hinunterhasteten.
Der oberste Hüter hörte die Frage und schaute
sich lächelnd um. »Wir haben einem verirrten Mann geholfen, seinen Hund
wiederzufinden.« Der Sturm tobte immer heftiger. Niemand zweifelte daran, daß
Arianus dem Untergang geweiht war, aber dann endete das Unwetter mit derselben
Plötzlichkeit, mit der es begonnen hatte. Die schwarzen Wolken verschwanden,
wie von einer riesigen Türöffnung aufgesaugt. Solarus kam wieder zum Vorschein
und blendete die verstörten Elfen mit seinem hellen Schein.
Als die Kenkari ihren unterirdischen
Zufluchtsort verließen, standen sie auf einem Trümmerfeld. Die Kristallkuppel
war eingestürzt, die Bäume und Blumen im Innern von Kristallscherben
niedergemäht und unter Hagelkörnern begraben.
»Die Seelen?« fragte erschüttert der Hüter der
Pforte.
»Fort«, sagte Schwester Buch traurig.
»Frei«, sagte der oberste Hüter und neigte den
Kopf zum Gebet.
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Appendix I
Eine ausführliche Geschichte des Siebten Tores,
der Teilung und des tragischen Niedergangs der Sartan in den Neuen Welten.
Zusammengetragen und aufgezeichnet von Alfred
Montbank
Anmerkung des Erzählers: Ich bin jenen Sartan zu
Dank verpflichtet, die Zeugen der Ereignisse waren, die ich in dieser
Monographie zu protokollieren versucht habe. Ihre unermüdliche Hilfe ist für
mich von unschätzbarem Wert gewesen.
WASSERTROPFEN
»Wir alle haben die Macht, unser eigenes
Schicksal zu gestalten. Das erscheint uns selbstverständlich. Doch jeder von
uns hat gleichermaßen die Macht, das Schicksal des Universums zu gestalten.
Aha, das zu glauben fällt weniger leicht. Aber ich sage euch, es ist so. Man
braucht nicht das Oberhaupt des Rats der Sieben zu sein. Nicht nur als
Elfenkaiser oder König der Menschen oder Führer eines Zwergenclans hat man die
Möglichkeit, der Welt, in der man lebt, seinen Stempel aufzudrücken.«
›In der Wasserwüste des Ozeans ist ein Tropfen
größer als der andere?‹ frage ich.
›Nein‹, antwortet ihr, ›und ebensowenig kann ein
einzelner Tropfen eine Flutwelle erzeugen.‹
›Aber‹, wende ich ein, ›wenn ein einziger
Tropfen in den Ozean fällt, ruft er Wellen hervor. Und diese Welle breiten sich
aus. Und vielleicht – wer weiß – vergrößern sich die Wellen und wachsen an und
schlagen irgendwann als gischtende Brandung an die Küste.‹
Wie ein Tropfen im Ozean erzeugt ein jeder von
uns Wellen auf dem Weg durch sein Leben. Die Auswirkungen von allem, was wir
tun – und sei es noch so unbedeutend –, ziehen Kreise. Wir werden in den
meisten Fällen nie erfahren, welche weitreichenden Folgen selbst die
geringfügigste Handlung auf unsere Mitgeschöpfe hat. Deshalb müssen wir uns zu
jeder Zeit unseres Platzes im Ozean bewußt sein, unseres Platzes in der Welt,
unseres Platzes in der Ordnung der Dinge.
Denn wenn wir
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