Das Siegel der Finsternis - Algarad 1
Schutz der Klippen am Ufer entlangschlängelte. Sein Verlauf wurde durch bizarre Felsvorsprünge unterbrochen, die die Küstenlinie in kleine Buchten unterteilten. Wasser, Wind und Wetter hatten im Lauf der Jahrtausende Durchgänge in den Fels gegraben, die wie Tore und Portale aussahen. Wählte man diese Route am Strand entlang, gelangte man direkt bis kurz vor die Mauern der Hafenstadt Lagath, ohne dem längeren, kurvenreichen Höhenweg folgen zu müssen.
Tenan hatte gut die Hälfte des Abstiegs hinter sich, als ein langgezogener Schrei von den steilen Felswänden widerhallte. Ein Schatten verdunkelte für einen kurzen Augenblick die Sonne. Tenan spürte, wie kalte Schauer seinen Rücken hinabjagten. Er hielt sich mit den Fingern an den Felsen fest und erstarrte. Was war das? Noch nie hatte er einen solchen Laut gehört. Er schaute sich um, doch es war nichts Außergewöhnliches zu sehen. Die Welt lag friedlich im milchigen Tageslicht des Vormittags da. Eine namenlose Traurigkeit ergriff auf einmal Besitz von ihm, als spürte er den Schmerz eines anderen Wesens am eigenen Leib. Er empfand eine seltsame Verbundenheit, die er sich nicht erklären konnte.
Leicht zitternd, mit wackeligen Beinen und klopfendem Herzen setzte Tenan seinen Abstieg fort. Erleichtert landete er schließlich mit einem Sprung auf dem Strand. Er begann mühsamdurch den klumpigen Sand zu stapfen, der vom vielen Regen noch feucht und schwer war. Nur schnell weg von hier. Was würden seine Freunde wohl zu dem unheimlichen Erlebnis sagen?
Tenan gelangte an einen breiten Felsvorsprung, der den Strand durchschnitt wie der Bug eines Schiffs. Seines Aussehens wegen nannte man ihn den Bugfels. Auch hier hatte die See einen dunklen Tunnel durch das Gestein gegraben, durch den man aufrecht gehend auf die andere Seite gelangen konnte. Ohne Scheu betrat Tenan den Gang, den er schon einige Male zusammen mit Amris und seinen anderen Freunden erkundet hatte. Rechter Hand gab es etliche Abzweigungen, die in Höhlen unter den Klippen führten. Man erzählte sich grauenhafte Geschichten von Ungeheuern und bleichen Riesenwürmern, die darin hausten, ahnungslose Wanderer angriffen und in die Dunkelheit verschleppten. Die Bewohner Gonduns fürchteten die Gänge. Kein Mensch hätte gewagt, die Höhlen zu erkunden. Kein vernünftiger Mensch, wie Tenan stets vor anderen mit Genugtuung betonte. Er und seine Freunde waren besonders stolz darauf, nicht zu diesen Menschen zu zählen. Natürlich hatten sie sich – trotz aller Verbote und Ermahnungen – vor einigen Jahren aufgemacht, das dunkle Geheimnis zu lüften. Das war eine Sache der Ehre. Mit Fackeln, Windlichtern und Heugabeln als Waffen ausgerüstet, waren sie losgezogen, um die Ungetüme herauszufordern. Doch wie enttäuscht waren sie nach einigen Stunden wieder ans Tageslicht zurückgekehrt. Sie hatten nichts gefunden außer feuchten Felsen, Schimmelflechten und Moos. Keine Spur von Ungeheuern und Gefahren. Die kleine, verschworene Gemeinschaft hatte ihr Geheimnis für sich behalten, und so erzählte man sich auf Gondun weiterhin die Schauergeschichten der »Höhlen unterm Bugfels«.Tenan blinzelte, als er auf der anderen Seite des Gangs wieder in die Helligkeit des Tageslichts trat. Gedanken verloren lief er weiter. Das Meer rauschte sanft. Plötzlich verhakte sich sein Fuß an einem Stück Holz, das unter einer Sandschicht verborgen war. Er stolperte. Fluchend wollte er das Treibgut zur Seite stoßen, da sah er, dass Buchstaben darauf eingraviert waren.
Stirnrunzelnd kniete er nieder und wischte den Sand von der Planke. Die Zeichen waren auf dem nassen Holz kaum zu erkennen. Sie waren in der seltenen Cestril-Schrift verfasst, die nur von den Eingeweihten des Dan-Ordens benutzt werden durfte. Tenan entzifferte nacheinander die einzelnen Buchstaben, die derart verwittert aussahen, als ob sie schon längere Zeit Wind und Wetter ausgesetzt gewesen waren. »Lethis«, murmelte er. Er grübelte, was dieses Wort wohl bedeuten mochte, doch es war ihm gänzlich unbekannt. Vermutlich entstammte es einer Sprache, die in Algarad schon längst nicht mehr gesprochen wurde.
Tenan ließ die Holzplanke sinken und sah sich um. Jetzt erst bemerkte er, dass die ganze Bucht mit Holzteilen übersät war. Zuerst hatte er ihnen keine Beachtung geschenkt, da er annahm, die Wellen hätten die Stämme und Äste von Bäumen an Land gespült, die der Orkan am Hochufer entwurzelt hatte. Nun wurde ihm plötzlich klar: Es mussten die
Weitere Kostenlose Bücher