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Das Siegel der Finsternis - Algarad 1

Das Siegel der Finsternis - Algarad 1

Titel: Das Siegel der Finsternis - Algarad 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Reichard
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seine Umgebung auf einmal überdeutlich wahr, seine Sinne schärften sich. Farben wurden im Zwielicht klarer. Er konnte jede Einzelheit des Raumes genauestens wahrnehmen, sah die Maserung des Schiffsrumpfs, hörte das leise Knacken, das durch die Spannung der Balken erzeugt wurde, und das Kratzen von kleinen Tieren, vermutlich Ratten und anderes Ungeziefer, die sich im Inneren des Schiffs zu schaffen machten. Die Gerüche differenzierten sich in eine Vielzahl von Abstufungen und Eigenarten, und die Kühle der Kajüte verwandelte sich in beißende Kälte. Gleichzeitig durchflutete ihn eine Welle von Kraft, als ob der Stein Verbindung zu ihm aufnähme.
    Ein plötzlicher Windstoß fegte draußen durch die Bucht. Tenan fröstelte.
    Langsam drehte und wendete er den Kristall, soweit seine tauben Finger es zuließen. Der Stein lag schwer in seiner Hand. Das rote Licht hielt seinen Blick gefangen und zog ihn in das Innere des Steins. In der Kristallscheibe bewegten sich schwarze Linien. Bilder tauchten auf. Zuerst sah er nur verschwommene, undeutliche Bewegungen, zusammenhanglose Muster verwirrenden Lichtspiels, doch dann gewannen die 65Bilder an Struktur und Form, und er konnte Gestalten erkennen. Er sah bizarre, unheimliche Schattenwesen, die sich in einer Welt, die grau und lichtlos war, verzweifelt in grotesken Bewegungen verrenkten und krümmten. Sie kämpften einen hoffnungslosen Kampf gegen unsichtbare Barrieren, die ihnen eine Flucht in hellere Regionen zu versperren schienen. Als sie Tenans Gegenwart wahrnahmen, begannen sie mit verzerrten Gesichtern lautlos zu rufen und zu schreien. Tenan sah ihr Leiden mit einer Mischung aus Schrecken, Abneigung und tiefem Mitgefühl. Er konnte ihre Verzweiflung körperlich und seelisch spüren, als sei es seine eigene. Schaudernd wollte er sich abwenden, doch eine unsichtbare Kraft verhinderte es. Sie zog seinen Blick immer wieder ins Innere des Kristalls. Plötzliche Hitzewellen durchfluteten seinen Körper und bildeten einen seltsamen Gegensatz zu der Kälte in seinen Händen. Je verzweifelter er versuchte, sich aus dem Bann des Kristalls zu befreien und die schrecklichen Vorstellungen abzustreifen, desto stärker wurde die Hitze.
    Schließlich gab er auf, überließ seinen Geist hilflos den Eindrücken, ließ sich in den magischen Sog der Bilder hineinziehen. Doch er versank nicht in ihnen, im Gegenteil. Sobald er aufhörte zu kämpfen, lösten sie sich auf, und ihn überkam ein Zustand innerer Ruhe. Dieser war ihm nicht fremd, er kannte ihn aus den Zuständen der Versenkung, in die Osyn ihn eingeführt hatte. Doch diesmal war etwas anders. Eine unsichtbare Macht war anwesend, weder Angst einflößend noch freundlich gesinnt, die Tenans Geist studierte. Seine Erinnerungen, Gefühle und Empfindungen lagen offen vor dieser Präsenz, und sie betrachtete sie prüfend, als ob sie abwog, ob er bereit und würdig sei, das Geheimnis des Kristalls zu tragen.
    Tenan konnte nicht sagen, wie lange er in diesem Zustandverharrte, doch plötzlich nahm er wieder die normale Umgebung wahr. Der Kristall leuchtete in seiner Hand, die Schattengestalten darin waren verschwunden. Was blieb, war ein Gefühl von Traurigkeit und tiefem Bedauern für die gequälten Wesen, die er gesehen hatte. Doch der Stein hatte ihn aus seinem Bann entlassen, stellte keine Bedrohung mehr für ihn dar. Fast schon unscheinbar schimmerte er vor ihm.
    Zitternd ließ Tenan ihn in den silbernen Beutel zurückgleiten. Kaum war das rote Glühen verschwunden, kam es ihm so vor, als sei es plötzlich heller in der Kajüte geworden. Von draußen sickerte spärliches Tageslicht durch die Ritzen im Rumpf.
    Tenan atmete schwer. Er wollte das Wrack so schnell wie möglich verlassen, musste dringend an die frische Luft. Die lautlosen Schreie und bizarren Verrenkungen der Schattenwesen ließen ihm keine Ruhe, ihr stummer Kampf erzeugte ungewohnte Schwermut und Unbehagen in ihm. Es handelte sich bei dem Stein um einen gefährlichen magischen Gegenstand, daran hatte er keinen Zweifel. Vielleicht war es klüger, den Kristall hier zurückzulassen. Dann bestand jedoch die Gefahr, dass jemand anders ihn fand und Schaden nahm. Tatsächlich schien es Tenan das Vernünftigste, ihn mitzunehmen und seinem Meister zu zeigen. Immerhin war Osyn ein Zauberer der Kleinen Magie und konnte den Kristall prüfen.
    Tenan stutzte. Er hatte den Beutel mit dem Stein, ohne dass es ihm bewusst war, bereits um seinen Hals gelegt, als sei die Entscheidung

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