Das Siegel der Finsternis - Algarad 1
Schmerzensschreie hallen durch die Luft. Sie kommen in Scharen. Rote Augen glühen im Licht der Fackeln.
Und dann die Flammen. Sie tauchen alles in orangerotes Licht, lassen die Schatten gespenstisch tanzen. Sie nähern sich langsam, Rauch und Qualm sind ihre Vorboten. Sobald sie da sind, kann nichts mehr der sengenden Hitze entkommen. Sie singen das Lied der Vernichtung. Sie durchtrennen die Ader des Lebens.
Draußen tobt der Kampf über den verzerrten Gesichtern der Toten im Schlamm.
Auf einmal wird es angenehm kühl. Es ist finster und klamm, irgendwo tropft Wasser. Stimmen, nie gehört und doch vertraut. Das Schicksal nimmt seinen vorbestimmten Lauf. Abschied. Er muss kommen. Er ist unvermeidbar. Geh nicht! Geh nicht! Lass mich nicht allein! Der Schmerz schneidet tief in die Seele, hinterlässt eine Wunde, so tief wie der Abgrund der Leere. Liebe ist das Gift, das sie nie verheilen lässt.
Währenddessen dreht sich der Sternenhimmel in ewiger Gleichmut. Tiefe Schwärze, nur ab und zu von verschwindend kleinen Lichtpunkten durchsetzt, Tausenden, Millionen zwar und dennoch nur ein lächerliches Aufbegehren des Lichts gegen den unendlichen Mantel der Finsternis. Denn Dunkelheit kann ohne Licht bestehen bis in alle Ewigkeit.
Dann beginnen sich die Sterne plötzlich in einem geisterhaften Tanz zu drehen, als falle der Himmel in sich zusammen. Licht und Finsternis wirbeln durcheinander, als wollten sie sich vereinen. Doch die Dunkelheit siegt: Sie dehnt sich aus, verschlingt die Sterne, wird zu einem bodenlosen Wirbeln, das ins ewige Vergessen mündet ...
Schweißgebadet schrak Tenan hoch. Er riss sein Hemd vom Leib und atmete schwer. Seine Augen suchten in der kleinen Kammer ängstlich nach der Bedrohung, nach dem Unbekannten, das ihn in seinen düstersten Träumen verfolgte, seit er denken konnte. Doch da war nichts. »Nur geträumt«, würde sein Meister Osyn sagen und ihm mit der kleinen Hand väterlich auf die Schulter schlagen, während er das Morgenmahl zubereitete. Aber für Tenan war es mehr als bloß ein schlimmer Traum. Es fühlte sich so echt an, als sei es Wirklichkeit! Dennoch war es seltsam, dass er sich nach dem Erwachen nie genau an die einzelnen Bilder erinnern konnte. Je verzweifelter er versuchte, den Szenen und Eindrücken einen Sinn, einen Zusammenhang zu geben, desto unschärfer und flüchtiger wurde alles. Es war, als entziehe sich seine Erinnerung wie eine Schlange, die im Unterholz unbemerkt zu entkommen versucht. Was nach dem Traum stets zurückblieb, waren Gefühle von unbändiger Wut und Hass, von Rachedurst. Tenan konnte sich nicht erklären, woher diese Empfindungen kamen. Sie mussten aus seinem Albtraum herrühren, oder besser: aus jener Wirklichkeit, die er in sich trug. Schon seit seiner Kindheit quälten ihn diese Träume in unregelmäßigen Abständen. Er hatte Osyn oft gefragt, was es mit den Bildern auf sich habe. Schließlich kannte sich sein Meister mit der Traumdeutung aus, die auch ein Teil seiner Aufgaben als Comori war. Doch Osyn hatte Tenans Träume nie erklären wollen.
»Dinge geschehen, Dinge vergehen«, sagte er bloß und wiegte seinen spärlich behaarten Kopf bedächtig hin und her. »Die Zeit heilt Verletzungen am besten, wenn man die Wunden nicht wieder aufkratzt.«
Mit wackeligen Knien schwang sich Tenan aus dem Bett. Die Kühle der Nacht drang wohltuend durch das offene Fenster.Gierig sog er die frische Luft ein und strich sich schweißnasse Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Fenstersims und schaute hinüber zum Dorf, das in friedlicher Ruhe unter dem Sternenzelt schlief. Am Himmel konnte er das Sternzeichen des Hirschs erkennen. Die schrecklichen Traumgesichte verblassten jedes Mal, wenn Tenan hier stand und die funkelnden Himmelskörper betrachtete. Ihm war, als lausche er einer fernen, erhabenen Musik, die ihn in seinem Innersten berührte. Sie spendete Trost – Trost und Geborgenheit.
Am Abend des dritten Tages, nachdem Tenan den Kristall gefunden hatte, wanderte er hinaus zu den Drei Klippen, einer Ansammlung von Felsen, die ins Meer hinausragten. Sie boten einen weiten Blick über das Narnen-Meer und nach Westen hin, zum Hafen von Dorlin. Hier hatten er und Amris oft gestanden, um den Schiffen nachzuschauen, die vom Hafen ablegten. An diesem Abend würde sein Freund Gondun verlassen.
In einem blutroten Feuerball versank die Sonne zwischen den Wolkentürmen im Westen. Im verblassenden Licht färbten sich die
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