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Das Siegel der Finsternis - Algarad 1

Das Siegel der Finsternis - Algarad 1

Titel: Das Siegel der Finsternis - Algarad 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Reichard
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drohte. Sie entfachten ein Feuer aus trockenen Zweigen und setzten sich, in ihre Mäntel gehüllt, möglichst nahe an die Flammen. Die warme Jahreszeit neigte sich dem Ende zu, und die Nächte wurden empfindlich kalt.
    Die Zweige knackten leise in den Flammen, manchmal zerplatzte ein trockener Tannenzapfen. Urisk legte ab und zu einen dicken Ast nach, sodass sich eine angenehm warme Glut ausbreitete. Nach und nach blitzten die ersten Sterne am Firmament auf. Die Stille des Ortes ließ selbst Urisk ehrfürchtig schweigen. Nur das leise Heulen des Windes war zu hören, der über die Ebene und die Ruinen außerhalb des Wäldchens strich. Sie verzehrten ein karges Nachtmahl, das aus getrockneten Früchten und Brot bestand. Ihren Durst konnten sie an einem kleinen Rinnsal stillen, das nahebei über den Waldboden floss. Dort füllten sie auch ihre ledernen Trinkbeutel. Als das Feuer heruntergebrannt war, legten sie sich bald zur Ruhe.
    Tenan verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte empor zu den Sternen, die am Himmel majestätisch ihre Bahnen zogen. Diesmal unterschied sich sein Traum in wohltuender Weise von all den anderen.

    Es ist Frühling. Der Schnee ist erst vor kurzem geschmolzen. Die kalten Nordwinde geben das Land langsam frei, und die ersten Blüten – Schneeglöckchen und Hirengold – sprießen zwischen den Mauern der Ruinen Armaras hervor. Tenan wandert zwischen den Steinen. Ein voller Mond steht am Himmel, dennoch ist es Tag, die Sonne scheint. Bald hat Tenan einen verfallenen, offenen Platz erreicht, in dessen Mitte ein Altarstein steht. Dichter, weißer Nebel quillt hervor und bedeckt die Ebene dahinter. Tenan sieht aus dem Nebel eine Gestalt auf sich zukommen. Oder entfernt sie sich von ihm? Die Gestalt ist hochgewachsen und trägt ein weites Gewand, auf das Runen gestickt sind. Er kann nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau ist.
    »Wer bist du?«, ruft Tenan. »Bleib stehen und zeig dich mir!«
    Die Gestalt verharrt. Als Tenan weitergeht, setzt auch sie ihren Weg fort. Tenan beschleunigt seinen Schritt. Bald ist er von dichtem Nebel umgeben, doch der Abstand verringert sich nicht. Tenan fürchtet, sich zu verlaufen, und bleibt stehen – gerade noch zur rechten Zeit: Als er auf den Boden blickt, sieht er, dass er am steilen Ufer eines tiefen, dunklen Flusses steht. Einen Schritt weiter, und er wäre in die reißenden Fluten gestürzt. Drüben steht die weiße Gestalt und kehrt ihm den Rücken zu.
    »Warum läufst du vor mir weg?«, ruft Tenan hinüber.
    »Ich darf nicht zu dir kommen, ich darf mich nicht einmal umwenden«, ertönt die Stimme einer Frau. Sie klingt traurig und hoffnungsvoll zugleich. Irgendwo hat Tenan sie schon ein mal gehört. Sie berührt sein Herz auf eigentümliche Art . Die Hüterin des Friedens , klingt es in seiner Seele.
    »Warum haben wir uns hier getroffen?«, fragt Tenan.
    »Du musst dich an deine eigentliche Aufgabe erinnern und auf die Suche gehen«, schallt die geheimnisvolle Antwort herüber. »Dein inneres Wesen wird dir den Weg weisen. Die Weisen in grauer Vorzeit wussten um die Macht der Seelenkräfte, die sie das dhorin nannten. Vertraue auf diese innere Stärke. Geh deinen Weg mutig und entschlossen weiter.«
    »Ich kenne dich von irgendwo her.«
    »Du wirst es wissen, wenn du den Weg weitergehst, auf dem du dich befindest. Aber du darfst diesen Fluss nicht durchqueren, oder er wird dich mit sich ins Reich des Vergessens reißen.«
    »Lass mich nur einmal dein Gesicht sehen!«
    »Ich darf nicht zurückblicken«, antwortet sie, und wieder ist eine Spur von Trauer in ihrer Stimme. »Für mich führt kein Weg mehr zurück ... bis Helith, die Göttin der Unterwelt, es anders entscheidet.«
    »Werde ich dich jemals wiedersehen?«
    »Noch ist die Zeit nicht gekommen. Später. Wir werden da sein. Aber noch nicht. Geh jetzt. Geh. Delinasté , Tenan von Esgalin!«
    Die geisterhafte Gestalt hebt die Hand zum Gruß, während sie sich in den Nebelschwaden auflöst.
    »Warte noch!«
    Doch schon ist sie verschwunden und geht in die immer strahlendere Helligkeit der Sonne ein, die durch den Nebel bricht.

    Tenan schlug die Augen auf. Vereinzelte Sonnenstrahlen, die durch die Äste funkelten, blendeten ihn, und er musste blinzeln. Müde streckte er sich und rieb sich den Schlaf aus demGesicht. Urisk war schon aufgestanden und verstreute die Reste des Lagerfeuers.
    Was für ein seltsamer Traum. Er konnte den Klang der Frauenstimme in seinem Geist immer noch hören.

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