Das Siegel der Macht
ganze Valentiankloster den Mönchen zurückzugeben. Feierlich kniete der weltliche Herr vor dem Abt von Pfäfers nieder und überreichte ihm die virga, einen Zweig, mit dem Christoph den Verzicht auf seine Ansprüche besiegelte. Am gleichen Nachmittag wurde mit der Räumung des Klosters begonnen. Die Mönche durften wieder einziehen.
»Kommt, ich möchte Euch ein Naturschauspiel zeigen«, forderte der Graf von Rätien Alexius nach Abschluss der Verhandlungen auf. Der Missus folgte ihm mit gemischten Gefühlen. Zu seiner Erleichterung schlug Christoph nicht den Weg zu seiner Burg ein. Er ritt dem Fluss nach aufwärts, dem Calanda-Gebirge entgegen. Plötzlich lichteten sich zu ihrer Rechten die Bäume. Alexius sah, dass sie sich einem Schwindel erregenden Abgrund näherten. Erschrocken trieb er seinen Fuchshengst zurück.
Der Graf von Rätien lächelte und stieg von seinem Rappen. »Das ist die Taminaschlucht. Gleich werdet Ihr einen spektakulären Wasserfall sehen.« Sie banden ihre Pferde fest und näherten sich zu Fuß der äußersten Stelle, wo Waldboden und Fels zusammentrafen. Vor ihnen stürzte der Fluss im freien Fall in die Tiefe. Schäumend suchte sich das Wasser im engen Tal seinen Weg durch die Felsen.
»Die Menschen der Gegend gleichen diesen wilden Wassern«, sagte Christoph, als sie mit dem Gefolge und den Packpferden des Kaiserboten vom Kloster Pfäfers zur Burg des Grafen ritten. »Wer mit solchen Naturgewalten aufwächst, lernt kämpfen und gibt nicht gern auf.«
Zum Vespertrunk saß der Missus Christoph allein gegenüber. Sie lehnten im größten Saal der Burg an feinen Kissen. Mit ehrlichen Augen musterte der Rätier seinen Gast. Alexius sandte einen Stoßseufzer zum Himmel.
»Mein Anliegen ist etwas heikel«, begann der Burgherr. »Mit Eurem Vater kann ich nicht gut verhandeln, da er in Reims lebt. Außerdem seid Ihr auf Wunsch des Kaisers Euer eigener Herr.«
Als sein Gast keine Antwort gab, fuhr er nach einer langen Pause fort: »Graf Alexius, ich möchte Euch die Hand meiner Tochter anbieten.« Christoph lächelte entwaffnend.
Die Anrede schien Alexius fremd. Seit Monaten hatte niemand ihn daran erinnert, dass er nicht nur kaiserlicher Bote, sondern auch Graf der Olseck war. Er schwieg.
»Gisela hat erfahren, dass Ihr viel studiert habt«, sagte Christoph vertraulich. »Deshalb hat sie mich mit dem Wunsch überfallen, sie in die Schule zu schicken.« Da Alexius immer noch schwieg, stand der Gastgeber auf. »Gebt mir beim Abendessen Bescheid. Gisela wird uns Gesellschaft leisten.«
Als er in seine Kammer trat, fand Alexius eine Seitentür geöffnet. Sie führte in einen zweiten Raum, in dem eine warme Bütte stand. Wie es der höfischen Sitte entsprach, hatte der Graf für seinen Gast ein Bad richten lassen. Der Missus stieg in den Zuber und entspannte sich im lauwarmen Wasser. Langsam machte die Stimmung ihn schläfrig. Zwei Kerzen tauchten die Kammer in ein gedämpftes Licht, über die Decke tanzten Schatten, getrieben vom Plätschern des Wassers. Alexius’ Augen folgten den vibrierenden Lichtkreisen. Er schloss die Lider.
Plötzlich huschte Gisela so leise hinter ihn, dass Alexius ungestört weiterdöste. Sie streifte ihre Tunika ab, trug nur noch ein feines Hemd. Sanft legte sie die Hände auf die Schultern des jungen Mannes und begann zu massieren.
Alexius drehte sich so brüsk um, dass die Bütte überschwappte.
»Ist es nicht recht, dass die Gastgeberin Euer Bad teilt?«, flüsterte Gisela erschrocken. Alexius sah zu ihr auf. Der gleiche verheißungsvolle Blick, feuchte Lippen, kunstvoll gedrehtes Haar. Die Grafentochter sah im Kerzenlicht verführerisch aus. Wasserspritzer hatten ihr Hemd durchnässt, klebten es auf die nackte junge Haut. Giselas Sinnlichkeit glühte, verstärkt durch monatelang aufgestaute Sehnsucht.
Alexius nahm ein Tuch zur Hand, bedeckte sich und stieg aus der Bütte. Auf der anderen Seite der Kammer setzte er sich auf einen Schemel und beobachtete Gisela schweigend. Er wusste nicht, was er sagen sollte, war erstaunt über sich selbst. Ich reagiere mit dem Verstand, nicht mit den Gefühlen, durchfuhr es ihn. Ihre intensive Weiblichkeit berührte ihn plötzlich nur oberflächlich. Die Trauermonate hatten ihn verändert, was er suchte, war mehr als stumme Sinnlichkeit.
Unverwandt starrte die Grafentochter ihn an. Alexius zuckte verlegen die Achseln und fixierte die Türöffnung seiner Schlafkammer. Gisela verstand. Sie ging hinaus und ließ ihn
Weitere Kostenlose Bücher