Das Siegel der Macht
Lektüre. Alexius las einige Abschnitte, ließ sie auf sich einwirken und nahm die nächste Seite in Angriff. Tröstend mochte die Philosophie sein, aber gegen die Unruhe des Kaiserboten war sie machtlos. Immer wieder schlichen sich Erinnerungen an den zweiten Besuch in Cluny in seine Gedanken …
Als Alexius im Reformkloster im Burgund ankam, war Odilo zunächst unerreichbar. Der Abt überwachte in der Kirche den Aufbau von Polstern, Teppichen und Draperien. Vorbereitungen für eine Gedenkfeier. Am Lukastag 998 jährte sich zum fünften Mal der Tod eines Klosterseniors, den man in Cluny als Heiligen verehrte. Der Mönch war für den Wettersegen zuständig gewesen.
Gleich nach Beendigung der Liturgie suchte Odilo den Missus im Gästehaus auf. Seine Augen waren noch vom kräftigen Weinen gerötet.
»Bruder Christian vermochte wie keiner den Teufel zu beschwören«, erklärte der Abt und wischte sich die Augen ab. »Seit er nicht mehr bei uns ist, machen die Wetterdämonen, was sie wollen.«
Alexius ging in die Knie und küsste Odilos Ring. »Ihr seid berühmt für Euren Tränenfluss«, sagte er bewundernd. »Auch der lebende Heilige Romuald soll weinen können, wann immer er will.«
»Habt Ihr mir eine Botschaft von Papst Gregor mitgebracht?«, wechselte der Abt das Thema.
»Nein, ich war in Pavia, nicht in Rom. Mein Ziel ist diesmal Fleury.«
Odilo entgegnete nichts. Er setzte sich auf eine Steinbank unter dem Fenster und fixierte seinen Besucher abwartend.
Weiß er schon, was ich ihm zu sagen habe?, überlegte Alexius. Kann ein Großabt Gedanken lesen? Er nahm all seinen Mut zusammen und suchte Odilos Augen: »Ich habe Euch bei meinem letzten Besuch über das steinerne Mal befragt. Könnt Ihr Euch erinnern?«
»Ja, es ist inzwischen auf allen Reformklosterportalen angebracht worden.«
»Nicht nur das. Die verschlungenen Halbkreise werden auch von Wanderpriestern als Erkennungszeichen benutzt. Von Weltgeistlichen, die das Kommen des Antichristen im tausendsten Jahr predigen.«
In Odilos intelligenten Augen las Alexius Erstaunen und Neugierde. »Weshalb sagt Ihr mir das alles?«, fragte der Abt.
»Weil das Mal mehr ist als ein steinernes Relief an Klosterportalen. Ich habe gehofft, bei Euch eine Erklärung zu finden.«
»Ich begreife nicht, weshalb ein Kaiserbote sich derart für Abteien und Wanderprediger interessiert. Ihr solltet Euch wirklich präziser ausdrücken.«
Statt einer Antwort fragte Alexius: »Habt Ihr Euch das Zeichen selbst ausgedacht?«
»Weshalb wollt Ihr das wissen?«
So ging es nicht weiter. Alexius seufzte, entschloss sich zur Wahrheit. »Ich habe dem sterbenden Missus Carolus geschworen, seine Mörder zu finden. Irgendwie hängt der Tod meines Freundes mit diesem Zeichen zusammen.«
Odilo nickte. »Ein solches Versprechen dürft Ihr nicht verraten«, sagte er ernst. »Leider kann ich Euch von keinem gefährlichen Geheimnis um das steinerne Mal berichten. Aber wenn Ihr schon nach Fleury reist, so fragt den Vorsteher Abbo! Er hat die Idee gehabt, das Zeichen zu verwenden.«
Die Klosteranlage von Fleury war kleiner als die Cluniazenserabtei im Burgund. An der Pforte übergab Alexius seinen Fuchshengst den Gefolgsmännern und ließ sich im Gästehaus einquartieren. Vor der Vesper erbat er sich das Privileg, in der Kirche zu beten.
Als das Portal hinter ihm zufiel, fühlte der Missus sich wie im Paradies. Vom Gotteshaus ging ein heiliges Feuer aus, das alle seine bisherigen Erfahrungen übertraf. Erschlagen von der Pracht, kniete Alexius zum Gebet nieder.
Zwischen dem Langhaus und dem Chor glänzte eine Schranke aus spanischen Kupferblättern. Am Postament spiegelblanke Metallstücke. Silbern und golden leuchtete die Altarverkleidung. Für die Handwaschung stand eine edelsteinbesetzte Kanne bereit. Plötzlich ertönten die Glöcklein, aus einer Tür traten kostbar gekleidete Priestermönche in die Kirche, schwangen ihre Rauchgefäße. Der Schatzmeister des Klosters bereitete für den Dirigenten des Kirchenchors einen silbernen Stab mit Kristallspitze vor.
Als der letzte Ton verklungen war, ging Alexius ins Abthaus. Zu den Privilegien des Vorstehers gehörte auch eine gesonderte Tafel mit Küche. Der Abt musste mit seinen Gästen speisen, so wollte es die Benediktinerregel. In Fleury verehrte man den Heiligen Vater Benedikt intensiver als anderswo, denn hier waren seine Reliquien.
Nach dem obligaten Kniefall wurde der Missus des Kaisers von Abbo zu einem Minnetrunk
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