Das Siegel der Macht
eingeladen.
»In amore patris Benedicti«, sagte der Abt feierlich und reichte seinem Gast den Weinbecher. Wortlos wurde getrunken, dann sprach Abbo ein Gebet.
Alexius hatte Zeit, sein Gegenüber zu betrachten. Unwillkürlich musste der Missus an Odilo von Cluny denken. Im Gegensatz zu jenem war der Abt von Fleury klein und schmächtig. Zahlreiche Fältchen durchzogen das rundliche Gesicht des Sechzigjährigen, seine braunen Augen waren unter den hängenden Augenlidern kaum zu sehen.
Höflich wies Abbo auf einen Stuhl im Speisezimmer. »Ihr habt einen Brief aus Ravenna mitgebracht?«, fragte er ohne Umschweife, als der Bote des Kaisers sich gesetzt hatte.
»Nicht aus Ravenna. Aber von Gerbert, dem dortigen Erzbischof.« Alexius überreichte das Schreiben.
Verwundert studierte der Abt das Pergamentstück. »Gerbert bittet mich, Euch zu helfen«, kommentierte er. »Habt Ihr wirklich vor einem Sterbenden ein Gelübde abgelegt?«
»Ja. Ich habe geschworen, das Rätsel seines Todes zu lösen.«
Abbos Stimme hatte einen ironischen Unterton. »Und weshalb sollte ich Euch dabei nützlich sein können?«
Wie die verwirrende Geschichte beginnen? Alexius überlegte fieberhaft, bevor er leise sagte: »Es geht um das steinerne Mal an den Klosterpforten. Dasselbe Zeichen wird auch von Wanderpriestern benutzt, die das baldige Kommen des Antichristen predigen.«
»Und?«
»Vater Odilo von Cluny hat mir erzählt, dass Ihr die verschlungenen Halbkreise als Zeichen ausgewählt habt.«
»Richtig«, nickte Abbo und lächelte. »Da Ihr von Gerbert kommt, hat er Euch die Bedeutung des Zeichens bestimmt erklärt.«
»Melchisedek.« Alexius betonte jede Silbe einzeln. »Der Priesterkönig aus dem Hebräerbrief.« Als Abbo schwieg, fuhr er fort: »Weshalb habt Ihr dieses Zeichen gewählt?«
»Was hat das mit Eurem Gelübde zu schaffen?«
Jetzt war der Moment gekommen. Genau wie in Cluny. Es gab kein Ausweichen mehr. Alexius fühlte die Gefahr fast körperlich. Wenn Abbo hinter den Morden steckt, durchfuhr es ihn, ist mein Leben zu Ende. Trotzdem zog er sich nicht zurück, sondern flüchtete in die Wahrheit. Er erzählte dem Abt vom belauschten Gespräch auf der Reichenau, vom Tod Bruder Maxims, von Carolus’ letzten Worten. Auch die Nachforschungen in den Klöstern und die Anschläge auf sein eigenes Leben verschwieg er nicht.
»Auf der Reichenau wurde von Mönchen und Bischofswahlen gesprochen«, sagte Alexius beschwörend. »Im Zusammenhang mit dem Zeichen Melchisedeks kann dies nur eines bedeuten.«
»Da bin ich aber gespannt.«
»Ihr …« Alexius schwieg, zögerte, nahm einen neuen Anlauf. »Ihr selbst oder Abt Odilo wollt wie Melchisedek Priesterkönig werden, … Herrscher über die Äbte …« Die letzten Worte waren dem jungen Griechen spontan über die Lippen gekommen. Als kaum hörbares Flüstern.
»Wer außer Euch kennt diese Geschichte?«, fragte Abbo. Sein Gesicht hatte sich verfärbt. Die weit aufgerissenen braunen Augen kontrastierten gespenstisch mit der fahlen Haut.
»Gerbert, der Bischof von Konstanz, außerdem ein Klosterbruder auf der Reichenau.«
Abbo von Fleury stand auf, ging hastig von einer Wand zur andern, flüsterte vor sich hin. Schweigend wartete Alexius am Tisch.
»Ich möchte Euch vertrauen, aber es ist noch zu früh«, sagte der Abt schließlich mit ruhigerer Stimme. »Leider muss ich Euch bitten, vorderhand mein Gast zu bleiben.«
»Wollt Ihr mich etwa gefangen nehmen?«, fragte Alexius ungläubig und stand auf. Er sah, dass er einen guten Kopf größer war als der Abt. Unwillkürlich musste er lächeln. Wie würde der schmächtige Abbo es fertig bringen, ihn mit Gewalt festzuhalten? Alexius behielt seine Gedanken für sich und fuhr höflich fort: »Wie stellt Ihr Euch das vor? Mein Gefolge mit den Panzerreitern wartet.«
»Ihr habt nicht richtig verstanden.« Abbo zog die fleischigen Augenlider hoch, seine Stirn runzelte sich. Gerade sah er Alexius in die Augen. »Ich will Euch nicht zwingen. Im Interesse einer heiligen Idee müsst Ihr freiwillig hier bleiben. Andernfalls … verdamme ich Euch!«
Alexius wurde blass, Panik stieg in ihm auf, weckte Erinnerungen an den Gang zum Eremiten Nilus in Rom. Schweigend beugte er sich dem Willen des Großabtes und ging ins Gästehaus.
29
Golden überstrahlte das Kreuz die Apsis der gewaltigen Basilika von Ravenna. Auf dem blauen Hintergrund leuchteten tausend Sterne. Darunter der Titelheilige, Sanctus Apolenaris, umgeben von zwölf
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