Das Siegel der Macht
sich noch einmal um. »Brüder der Reichenau«, sagte er traurig, »ich danke ab.«
Das Refektorium erwachte zu hektischem Leben. Mönche standen von ihren Plätzen auf, riefen, gestikulierten. Geduldig hob Martin die Hand und wartete, bis wieder Ruhe war. »In den nächsten Tagen wird die Abtwahl vorbereitet. Vorher wollen wir beraten. Die endlose Bauerei auf der Reichenau, die hohen Ausgaben für Reisen und Kriegsdienste müssen ein Ende haben. Was nützt uns der Ruf unserer Malerschule, wenn wir deshalb zu Skeletten abmagern?« Zustimmendes Gemurmel. Martin sprach weiter: »Lasst aus der Küche Brot, Käse und Wein bringen. Wenigstens heute wollen wir satt werden.«
Maurus stahl sich aus der Menge davon. Ungehindert passierte er den Garten und eilte in den oberen Stock des Gästehauses. Alexius öffnete sofort die Tür seiner Kammer.
»Schon wieder hier? Was ist denn passiert?«
»Abt Witigowo ist überstimmt worden. Er hat abgedankt.«
Vor Verblüffung tat Alexius einige Schritte nach hinten, stieß gegen das Bett. »Bischof Lambert hat mir von Parteien in Klöstern erzählt«, brachte er hervor. »Aber hier, auf der Insel?«
»Ich habe Euch ja gesagt, dass Ihr von den Geheimnissen auf der Reichenau keine Ahnung habt.«
Alexius hörte gebannt zu und strich ein Pergament auf dem Tisch glatt. Als der Wortschwall des Klosterarztes versiegte, sagte er: »Ich habe das Schriftstück durchgelesen, das Ihr mir vorhin gebracht habt. Es gibt keine Zweifel. Einer der beiden Besucher, die im letzten Jahr mit Abt Witigowo eine Unterredung hatten, war Abbo von Fleury.«
»Ein Oberhaupt der westfränkischen Reformklöster auf der Reichenau! Ich habe es vermutet, als ich den Brief entdeckte.«
»Ist nicht Abt Odilo vom burgundischen Cluny der Anführer der Reformklöster?«
»Ja, seine Vorgänger haben strenge neue Regeln für das klösterliche Leben geschaffen. Seit einiger Zeit aber wird das Reformmönchtum nicht mehr nur von Cluny aus verbreitet. Auch die mächtige Abtei von Fleury an der Loire schickte Gesandte aus, um andere Klöster zu Zucht, Ordnung und neuen Ritualen anzuhalten.« Maurus zeigte mit dem Finger auf das Pergamentstück. »Nennt Abbos Brief einen Grund für das geheime Treffen auf der Reichenau?«
»Nein. Im letzten Sommer ist der Brief geschrieben worden. Der Abt von Fleury teilt Witigowo mit, dass er zu Papst Gregor reist, aber nicht über die Reichenau wie im vorangegangenen Herbst.«
»Er muss längst unterwegs sein. Jetzt haben wir ja schon Oktober. Was steht sonst noch im Brief? Ist nur von Abbo die Rede oder auch vom dritten Gesprächsteilnehmer?«
»Leider wird der Besucher mit dem italienischen Gefolge nicht genannt. Etwas aber hat mich an dem Schreiben stutzig gemacht. Der Schlusssatz ist mir unverständlich.« Alexius reichte Maurus den Brief: »Die Masse macht mit, die Idee verbreitet sich.«
13
Die Gebäude lagen im Dunkel, als Alexius mit seinem Gefolge einen Gutsbetrieb sechs Stunden östlich von Reims erreichte. Fackeln wurden in den Hof getragen, Diener herbeigerufen. Der Haushofmeister warf einen Blick auf die Kleidung des Fremden und sprudelte Befehle heraus. Ehrfürchtig komplimentierte er den verstaubten Ritter in einen dürftig erwärmten Raum im Haupthaus, wo Frauen heißes Wasser in eine Bütte schütteten.
»Erfrischt Euch«, sagte er zu Alexius. »Es ist Weihnachten, das Jahr 996 geht zu Ende. Die Herren sind immer noch beim conuivium.«
»Ein Bruderschaftsessen?«
»Ja. Euer Gastgeber Helgaud, ein Lehnsmann des Herzogs. Zusammen mit seinem Schwurfreund. Das Gelage dauert schon zwei Tage.« Der Haushofmeister ließ den Fremden allein. Alexius schüttelte die Strapazen des endlosen Ritts im Badezuber ab. Er schob die Sorgen beiseite und freute sich auf das Abendessen. Gut gelaunt streifte er sich festliche Kleider über.
Im größten Raum standen der fettleibige Herr und seine Frau steif zum Empfang des vornehmen Boten bereit. In aller Eile hatte man die wertvollsten Gewänder und Schmuck hervorgeholt. Die Gutsherrin trug mehrere Ringe und ein Halsband. Am Tisch saß ein weiterer Mann gleichen Ranges. Schwer lagen seine Ellbogen auf dem Tisch, er starrte mit trüben Augen auf den Neuankömmling.
Der Gastgeber nahm einen Weinbecher und reichte ihn Alexius. Dieser gab ihn an die Frau weiter und ergriff den zweiten. Damit war das Zeremoniell beendet.
Hungrig griff der Missus in die Schüssel. Er schluckte das zarte Fleisch eines Hühnchens und erklärte: »Ich komme
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