Das Siegel der Macht
seinen Mönchen in die Seele zu schauen.
Eigensinn spiegelte sich auf Witigowos Gesicht, als er leise begann: »Drei Mitbrüder sind vom Tisch ausgeschlossen worden.« Der Abt machte eine Pause und beobachtete die Reaktion seiner Zuhörer. Alle fixierten die drei unbesetzten Plätze neben der letzten Säule. »Martin, Pirmin und Maurus haben vorgestern die nächtliche Schweigepflicht verletzt.« Witigowos Stimme schwoll an, wurde schneidend. »Sie dürfen zur Strafe im Gotteshaus keinen Psalm, keine Antiphon anstimmen und keine Lesung vortragen.« Der Klostervorsteher nickte, die Tür wurde geöffnet.
Zögernd traten die drei ausgeschlossenen Brüder ein. Hinter ihnen der Horcher der vorletzten Nacht. Er trug jene Peitsche, deren Striemen seinem Rücken immer noch zu schaffen machten.
»Ich muss außerdem anzeigen, dass die wichtigste Klosterregel von Maurus verletzt worden ist. Er hat seinem Abt keine Demut, keinen Gehorsam gezeigt.« Witigowo wartete die Wirkung seiner Worte ab. Ein kaum hörbares Raunen ging durch die Reihen, aber niemand wagte zu sprechen. Anklagend fuhr der Abt fort: »Bruder Maurus ist in meinen Schlafraum eingedrungen und hat gestohlen. Willst du Genugtuung leisten?«
Maurus schwieg.
»Du bist verstockt und musst büßen.« Witigowo streckte die Hand nach der Peitsche aus. »Wer will die Strafe vollziehen?« Langsam ließ der Abt seinen Blick über die Mönchsreihe mit den drei leeren Plätzen schweifen. »Ein Mitbruder dieser Abteilung?«
Niemand meldete sich. Der Vorsteher versuchte es mit der zweiten, dritten Gruppe. Kein Mönch ergriff die Peitsche.
Martin drehte Witigowo den Rücken zu und steuerte wortlos seinen Platz an. Vor dem leeren Sitz blieb er stehen und rief laut in den Kapitelsaal: »Mitbrüder, der Zeitpunkt ist gekommen. Wir müssen vom alten Wahlrecht Gebrauch machen, das der Heilige Vater uns Mönchen zugestanden hat. Wer unter euch will, dass wir uns versammeln, diskutieren und dann einen neuen Abt wählen?«
Eine Hand um die andere wurde zögernd gehoben. Es ging immer schneller. Fünfzig, sechzig, siebzig Hände strebten nach oben, getrieben von den schmerzhaft leeren Mägen.
»Vater Abt …?« Martins Worte blieben in der Luft.
Fahl und schlaff wirkte Witigowos Gesicht, er musste sich aufstützen. »Die Ruhe des Klosterfriedens war mein einziges Ziel.« Der Abt stand auf und ging in die Mitte des Kapitelsaals. Anklagend zeigte sein hagerer Arm auf Martin. »Furchtlos wie eine Taube habe ich die Schlange an meiner Brust genährt. Ihr Gift wird euch alle vernichten, wenn ihr euch von Gott abwendet.«
Pirmin beobachtete seine Mitbrüder, die unsicher vom Abt zu Martin blickten, und stand auf. »Niemand hat Euch verraten. Wir sind am Verhungern, Vater Abt, wir wollen nicht weiter dulden, dass alle unsere Mittel verschleudert werden.«
»Ich habe für die Kirche zwei Kreuze aus Gold, Silber und Edelstein anfertigen lassen. Neue Kapellen sind entstanden. Ist es Verschwendung, wenn dem Altar der Mutter Gottes silberne Schranken zugefügt worden sind?« Als niemand antwortete, nutzte Witigowo seinen Vorteil. »Sagt mir, kann Gott je genug geehrt werden? Sind Säulen, Arkaden, Malereien zu seinen Ehren Verschwendung?«
»Die Ehre der Reichenau, Eure eigene Ehre liegt Euch am Herzen«, sagte Martin leise. »Es war unnötig, sechzig Panzerreiter mit dem königlichen Heer nach Rom zu führen. Hätten nicht auch die vierzig genügt, die Sankt Gallen und der Bischof von Konstanz sandten? Und weshalb hat einzig die Reichenau ein prunkvolles Gästehaus, das jede Königspfalz aussticht?«
»Gottes Größe …«
»Nein«, unterbrach der Klosterbruder seinen Abt. »Euer Neid ist schuld an allem. Ihr könnt es nicht ertragen, dass die Konstanzer ein derart schönes Münster besitzen. Vor allem habt Ihr mit der neuen Abtei von Petershausen wetteifern wollen. Dort glitzert schon in der Vorhalle ein kostbarer Kronleuchter, die holzgeschnitzten Portale sind schöner als unsere, der Hochaltar glänzt aus reinem Gold …«
Zwei Klosterbrüder mussten Witigowo stützen, sonst wäre er zu Boden gefallen. Willenlos ließ er sich zu seinem Sitz führen. Lange schwieg der Abt, starrte von einem Mönch zum andern, brachte dann zitternd hervor. »Schlimmes, Unerhörtes werft ihr mir vor. Aber ich will geduldig alles ertragen, denn mein Herr und Erlöser wird mich bald zu sich rufen.«
Witigowo stand auf und wankte dem Portal zu. Bevor er die unterste Treppenstufe erreichte, kehrte er
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