Das Siegel der Macht
Antichrist gebunden und fast machtlos. Aber bald wird Satan frei werden.« Die Stimme dröhnte stärker: »Peccatis nostris exigentibus, die Endzeit kündigt sich an.«
Wie ein einziger Mann warfen sich die Versammelten auf die Knie. Was sollen wir tun, flehten verzweifelte Augenpaare.
»Im nächsten, im übernächsten Jahr werdet ihr Blutregen erleben, Seuchen und Kometen.« Wie der Donner Gottes tobte der Priester. »Besinnt euch, sühnt eure Sünden.«
Der Mann in der Kutte griff zu einem Stecken und zeichnete Linien in die Erde. »Merkt euch das Zeichen, folgt ihm, gehorcht.«
Alexius beugte sich vor, konnte es aber nicht erkennen. Verdutzt musterte er die flammenden Blicke der Zuhörer. Sie wollten das Zeichen, waren bereit, für das Zeichen durchs Feuer zu gehen. In diesem Augenblick bemerkte der Prediger den Fremden. Komm zu mir, befahlen seine Augen. Behutsam zog sich der junge Grieche durch die Reihen zurück. »Bringt mir den Mann dort, er gehört nicht zu uns!« Hände griffen nach dem Missus des Kaisers. Es gelang ihm, durch einen Bretterspalt in eine Hütte und durch die offene Tür ins Freie zu schlüpfen.
18
Als die Gesandtschaft des Kaisers eintraf, saß Papst Johannes Philagathos allein im Triklinium des Lateranpalastes in Rom. Um ihn Marmorböden und Wände glatt wie Spiegel, Verzierungen aus massivem Gold. Der Pontifex hatte keine Augen für die Schätze, die ihn umgaben. Er starrte auf das Mosaik in der Apsis, das vor bald zweihundert Jahren für den großen Kaiser Karl geschaffen worden war. Die Darstellung dominierte der heilige Petrus, riesengroß mit weißem Bart und barfuß. Zu seiner Linken kniete der Frankenherrscher und empfing die Standarte, Symbol der zeitlichen Gewalt. Auf der anderen Seite nahm Papst Leo III. einen weißen Schal aus Lammwolle entgegen. Das Pallium des guten Hirten. Johannes Philagathos fixierte das Abbild des Papstes. Die Mosaiksteine formten ein friedliches Gesicht, Frucht des guten Gewissens.
Der Apostolische Hirte erhob sich aus dem Sessel, glitt ruhelos wie ein Raubtier über die Marmorplatten. Auf und ab, auf und ab, starrte erneut auf das Mosaik. Angst, Spannung, Ausweglosigkeit schmerzten wie Stiche, der Papst fühlte sich einsamer als je zuvor. Er verließ das Triklinium, ging wortlos am Türsteher vorbei.
In einer kleinen Schreibstube des Patriarchiums setzte er sich an seinen Tisch. Der Brief lag immer noch dort. Vorwurfsvoll harte Zeilen, verfasst vom heiligsten Mann, den Johannes Philagathos kannte. Nilus von Serperi hatte das Schreiben gesandt. Der uralte Eremit mahnte den unrechtmäßigen Papst, nicht weiter menschliche Ehren anzustreben und zum demütigen Mönchsleben zurückzukehren. Wieder und wieder las der geistliche Herr Roms die Botschaft. Er konnte sich nicht entscheiden und stieg die Treppe zur Papstkapelle, zum Sancta Sanctorum, hinauf.
Am göttlichsten Ort der Welt kniete er vor Reliquien und der Ikone mit dem Antlitz Christi. Die goldene Einfassung mit den Edelsteinen blendete, ließ das mystische Gesicht fast verblassen. Johannes Philagathos suchte in den großen gemalten Augen ein Zeichen. Gott blieb stumm.
Der Papst war verzweifelt und rang mit sich selbst. Weshalb hatte er sich von Crescentius Nomentanus zum Pontifikat überreden lassen? Der Heilige Vater konnte plötzlich sich selbst nicht mehr verstehen. War es wirklich sein innerster Wunsch gewesen, Rom wieder dem byzantinischen Kaisertum auszuliefern? Nein, doch der weise Nilus von Serperi hatte Recht. Er, Johannes, war ein Usurpator und würde sein Streben nach Macht teuer bezahlen müssen, möglicherweise mit dem Leben. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät. Der Papst nahm eine kostbare Reliquie in die Hand und betete zu Gott.
Das ersehnte Gefühl der Hoffnung blieb aus, noch viel stärker schmerzte die Einsamkeit. Mutlosigkeit paarte sich mit der Gewissheit, versagt zu haben. Plötzlich spürte Johannes Stiche im Magen, die Panik erfasste seinen Körper. War das sein Gewissen, das ihn zum Rücktritt drängte? Nein. Zum Papst sprach die eigene Angst vor dem Kaiser, die Angst vor dem weiterhin allzu mächtigen deutschen Papst Gregor, der in der Lombardei auf seinen großen Moment wartete. Als er das begriff, verachtete Johannes Philagathos sich selbst. Es ging ihm nur darum, die eigene Haut zu retten. Kein religiöses Fieber trieb ihn, keine Liebe zu Gott und den Gläubigen.
Gefasst ging der Apostolische Hirte in seine Schlafkammer und zog sich um. Ein besticktes
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