Das Siegel der Tage
Francisco gekommen, vor der wir als Familie aussagten. Vor der Tür eines Saals im Rathaus sah man in einen langen Gang, und über den näherte sich unsere phänomenale Enkeltochter zum ersten Mal ohne Gehhilfe. Mühevoll arbeitete sich das kleine Persönchen auf dem endlosen gefliesten Weg voran, gefolgt von den beiden Müttern, die sie nicht anfaßten, aber aufpaßten, um sie zu halten, falls sie hinfiele. »Habe ich nicht gesagt, daß ich laufen würde?« sagte Sabrina mit diesem triumphierenden Gesichtsausdruck, mit dem sie jeden ihrer hartnäckig erkämpften Erfolge feiert. Sie war herausgeputzt mit Schleifen im Haar und rosa Turnschuhen. Sie sagte allen hallo, tat, als sähe sie Willies Rührung nicht, stellte sich für die Familienfotos in Pose, bedankte sich, daß die ganze Sippe gekommen war, und verkündete feierlich, von nun an heiße sie mit Vornamen Sabrina und mit Nachnamen so wie Jennifer und hintendran wie ihre Adoptivmütter. Dann drehte sie sich zu der Richterin um und sagte: »Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bin ich eine berühmte Schauspielerin.« Und wir waren uns alle sicher, daß sie das schaffen würde. Sabrina, die in der makrobiotisch und spirituell orientierten Oase des Zentrums für Zen-Buddhismus aufgewachsen ist, will einzig und allein Filmstar werden, und ihr Lieblingsessen sind blutige Hacksteaks. Mir ist ein Rätsel, wie sie es schafft, jedes Jahreine Einladung für die Oscar-Verleihung in Hollywood zu bekommen. In der Gala-Nacht sehen wir sie im Fernsehen, wie sie mit einem Stift in der Hand oben auf der Galerie sitzt und sich zu den Stars Notizen macht. Sie bereitet sich auf den Tag vor, wenn es an ihr ist, über den roten Teppich zu gehen.
Fu und Grace sind inzwischen kein Paar mehr, wie sie es über ein Jahrzehnt gewesen sind, fühlen sich aber durch Sabrina und ihre lange Freundschaft so stark miteinander verbunden, daß es nicht lohnt, sich zu trennen. Ihr Puppenhäuschen auf dem Anwesen der Buddhisten, um das sie sehr beneidet werden, weil es immer Anwärter auf ein kontemplatives Leben abseits der materialistischen Pfade gibt, haben sie umgebaut. Neue Wände wurden eingezogen, in der Mitte ist ein Zimmer für Sabrina entstanden, und die beiden wohnen rechts und links davon. Man muß über das Mobiliar und das überall herumliegende Spielzeug krabbeln, will man sich in den winzigen Zimmern bewegen, die sie sich obendrein mit Mack teilen, einem kalbgroßen Blindenhund, den sie für Sabrina besorgt haben. Sie liebt ihn sehr, braucht ihn aber nicht, sie kommt allein klar. Ein Jahr strenger Prüfungen war vonnöten, bis Mack ihnen ausgehändigt wurde; Fu und Grace mußten einen Kurs besuchen, um sich mit ihm zu verständigen, sie bekamen ein Album mit Welpenbildern von Mack und wurden gewarnt, daß man unangemeldete Kontrollbesuche durchführen werde, denn wenn sie sich nicht ausreichend kümmerten, müßten sie den Hund wieder abgeben. Endlich war er dann da: ein falber Labrador mit Augen wie Trauben und klüger als die meisten Menschen. Einmal nahm Grace ihn ins Krankenhaus mit, damit er sie auf ihrem Rundgang durch die Krankenzimmer begleitete, und konnte sehen, daß Mack selbst die Todkranken ein wenig aufzumuntern verstand. Ein Patient, der an Wahnvorstellungen litt und schon sehr lange in seiner eigenen Hölleschmorte, hatte eine verkrüppelte Hand, die er immer in der Tasche verbarg. Der Hund lief schwanzwedelnd ins Krankenzimmer, legte seinen schweren Kopf des zahmen Untiers auf die Knie des Unglücklichen und vergrub seine Schnauze in dessen Pyjamatasche, bis der die Hand, für die er sich so schämte, herauszog und Mack sie abzulecken begann. Vielleicht hatte nie jemand diesen Menschen auf so liebevolle Art berührt. Der Blick des Kranken traf den von Grace, und für einen Moment schien es ihr, daß er den Kerker verließ, in dem er gefangen war, und sich dem Licht näherte. Seither hat der Hund im Krankenhaus viel zu tun, bekommt ein Schild mit der Aufschrift VOLONTÄR um den Hals und wird auf Visite geschickt. Die Patienten verstecken die Nachtischkekse vom Abendessen für Mack, und er ist pummelig geworden. Verglichen mit ihm, ist meine Olivia nur ein Haarknäuel mit Fliegengehirn.
Während Grace und der Hund im Krankenhaus arbeiten, leitet Fu weiterhin das Zentrum für Zen-Buddhismus, in dem sie bestimmt eines Tages Äbtissin wird, obwohl sie nie Interesse an diesem Posten bekundet hat. Diese Frau mit dem kahlgeschorenen Kopf und dem japanischen Mönchshabit
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