Das Siegel der Tage
wollte, außer mir. Er schrieb in Flugzeugen, in der Küche, im Bett, während ich gnadenlos über ihn herzog. Ein sexbesessener Zwerg! Welch brillante Eingebung! Durch seine irrationale Zuversicht, die ihm im Leben schon so oft geholfen hatte, behielt Willie auch diesmal Oberwasser und überhörte die chilenischen Sticheleien, die für gewöhnlich wie ein Tsunami alles niedermachen, was ihnen in die Quere kommt. Ich hatte geglaubt, der literarische Eifer werde ihm vergehen, sobald er mit den Tücken der Kunst konfrontiert wäre, aber nichts hielt ihn auf. Er beendete ein scheußliches Buch, in dem eine enttäuschte Liebe, eine Rechtsstreitigkeit und der Zwerg miteinander vermischt sind und den Leser verwirren, der nie weiß, ob er eine Liebesgeschichte, die Lebenserinnerungen eines Anwalts oder einen Haufen hormonbedingter Phantasien eines verklemmten Pubertierenden vor sich hat. Die Freundinnen, die das Buch lasen, redeten Klartext mit Willie: Man mußte den gottverdammten Zwerg rauswerfen, bei sorgfältiger Überarbeitung wäre der Rest des Buchs dann vielleicht zu retten. Die Freunde rieten ihm, die Liebesgeschichte rauszuwerfen und sich mehr auf die Sudeleien des Zwergs zu konzentrieren. Jason sagte, er solle die Liebesgeschichte, die Gerichtsverhandlungen und den Zwerg vergessen und etwas schreiben, das in Mexiko spiele. Mit mir geschah etwas Unerwartetes: Das verkorkste Buch steigerte meine Bewunderung für Willie, weil er durch das Schreiben mehr denn je seine wesentlichen Stärken unter Beweis gestellt hatte: Willenskraft und Durchhaltevermögen. In den Jahren, die ich mit Schreiben verbracht habe, habe ich ein bißchen gelernt – zumindest wiederhole ich meine Fehler nicht, auch wenn ich mir immer wieder neue einfallen lasse –, deshalb bot ich mich meinem Mannals Lektorin an. Willie hörte sich meine Bemerkungen mit einer Demut an, die ich aus anderen Lebensbereichen nicht an ihm kenne, und überarbeitete das Manuskript, aber auch diese zweite Version schien mir an grundsätzlichen Problemen zu kranken. Schreiben hat viel mit Zaubern gemeinsam, es ist nicht damit getan, das Kaninchen aus dem Hut zu ziehen, man muß dabei auch elegant und glaubhaft wirken.
Gebete
Mit einer Großmutter wie der meinen, die mich früh an den Gedanken gewöhnte, daß die Welt ein magischer Ort ist und jeder, der etwas anderes behauptet, dem menschlichen Größenwahn unterliegt, weil wir doch über kaum etwas Macht besitzen, sehr wenig wissen und ein Blick auf die Geschichte genügt, um die Beschränktheit der Vernunft zu begreifen, muß es einen nicht wundern, wenn ich alles für möglich halte. Vor sehr, sehr langer Zeit, als sie noch lebte und ich ein verschüchtertes kleines Ding war, ließen diese wunderbare Frau und ihre Freundinnen mich an ihren Séancen teilnehmen, bestimmt hinter dem Rücken meiner Mutter. Sie legten zwei dicke Kissen auf den Stuhl, damit ich über den Rand des Tischs schauen konnte, desselben Eichentischs mit den Löwenfüßen, der heute in meinem Besitz ist. Auch wenn ich noch sehr klein war und mit dieser Zeit keine Erinnerungen, sondern einzig Phantasien verbinde, sehe ich deutlich, wie der Tisch unter dem Einfluß der von jenen Damen herbeigerufenen Seelen in die Höhe hüpft, wiewohl er bei mir daheim nie einem Mucks getan hat, schwer und unverrückbar wie ein toter Büffel an seinem Platz bleibt und die bescheidenen Funktionen des gemeinen Möbelstücks erfüllt. Das Mysteriöse ist kein literarisches Mittel, um meine Bücher zu würzen, wie mir von manchen Kritikern unterstellt wird, sondern gehört zum Leben. Tiefe Mysterien, wie Jean, meine Mitschwester vom Durcheinander, es erlebte, als sie barfuß über glühende Kohlen lief. »Es ist eine Erfahrung, die dich verändert, weil sie sich rational oder wissenschaftlich nicht erklären läßt. In dem Moment wurde mir klar, daß wir unglaubliche Fähigkeiten besitzen; wir wissen, wie man geboren wird, ein Kind zur Welt bringt und stirbt, und genauso wissen wirauch, mit den glühenden Kohlen umzugehen, die so oft auf unserem Weg liegen. Seit ich das erlebt habe, sehe ich der Zukunft gelassen entgegen, ich kann die schlimmsten Krisen durchstehen, wenn ich mich nicht anspanne und mich vom Geist leiten lasse«, sagte sie darüber. Und ebendas tat Jean, als ihr Sohn in ihren Armen starb: Sie ging über das Feuer, ohne sich zu verbrennen.
Nico fragt mich, weshalb ich an Wunder, Träume, Geister und andere zweifelhafte Phänomene glaube; seine
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