Das Siegel der Tage
praktische Vernunft verlangt nach schlüssigeren Beweisen, als die Geschichten einer Urgroßmutter sie liefern könnten, die seit über fünfzig Jahren unter der Erde liegt, aber mich verleitet die Fülle all dessen, wofür ich keine Erklärung habe, zum Gedanken an Magie. Wunder? Mir scheint, sie geschehen ständig, schon daß unsere Sippe noch immer zusammen in einem Kahn schippert, kommt mir wie eines vor, aber dein Bruder meint, sie seien nur eine Mischung aus Aufnahmefähigkeit, Wunschdenken und der Bereitschaft, an sie zu glauben. Du hingegen warst von derselben spirituellen Unruhe erfüllt wie meine Großmutter, und weil du im katholischen Glauben aufgewachsen warst, suchtest du in ihm Erklärungen für die täglichen Wunder. Viele Zweifel plagten dich. Das letzte, was du zu mir sagtest, ehe du ins Koma fielst, war: »Ich suche Gott und finde ihn nicht. Ich liebe dich, Mama.« Ich möchte gern glauben, daß du ihn jetzt gefunden hast, Tochter, und daß du vielleicht überrascht warst, weil er anders war, als du erwartet hast.
Hier, in dieser Welt, die du hinter dir gelassen hast, wurde Gott von den Männern als Geisel genommen. Sie haben einige abwegige Religionen geschaffen, und mir ist unbegreiflich, wie diese Religionen die Jahrhunderte überdauern konnten und selbst heute noch neue Anhänger finden. Sie sind gnadenlos, predigen Liebe, Gerechtigkeit und Erbarmen und begehen in deren Namen Unmenschlichkeiten. Die sehr hohen Herren Religionsvertreter rümpfenmißbilligend die Nase und verurteilen Freude, Lust, Wißbegierde und Phantasie. Viele Frauen meiner Generation mußten sich eine eigene Spiritualität schaffen, die zu ihnen paßt, und hättest du länger gelebt, wärst du womöglich irgendwann auch diesen Weg gegangen, denn die Götter des Patriarchats sind zweifellos nichts für uns: Sie lassen uns für die Versuchungen und Sünden der Männer büßen. Wieso fürchten sie uns so? Mir gefällt die Vorstellung von einer allumfassenden und mütterlichen Gottheit, die mit der Natur, mit allem Lebendigen, verbunden ist, ein ewiges Sich-Erneuern und -Weiterentwickeln. Meine Göttin ist ein Ozean, und wir nur Wassertropfen, aber auch ein Ozean besteht aus Wassertropfen.
Mein Freund Miki Shima ist Anhänger des alten japanischen Schintoismus, einer Religion, die behauptet, daß wir vollkommene Geschöpfe sind, geschaffen von der Göttin Mutter, um in Freude zu leben; keine Schuld, keine Buße, keine Hölle, keine Sünde, kein Karma und keinerlei Notwendigkeit, Opfer zu bringen. Das Leben ist dazu da, sich daran zu erfreuen. Vor ein paar Monaten reiste Miki nach Osaka, um zusammen mit hundert Japanern und fünfhundert Brasilianern, die in Karnevalsstimmung antanzten, an einer zehntägigen schintoistischen Fortbildung teilzunehmen. Der Tag begann um vier am Morgen mit Gesängen. Wenn die Meisterinnen und Meister vor der Menschenmenge, die in dem riesigen, schlichten Holztempel zusammenkam, sagten, jeder einzelne hier sei vollkommen, bedankten sich die Japaner mit einer Verbeugung, während die Brasilianer vor Freude jaulten und herumhüpften wie bei einem Tor für Brasilien bei der Fußballweltmeisterschaft. Jeden Morgen geht Miki hinaus in seinen Garten, verbeugt sich und begrüßt den neuen Tag und die Millionen Geister, die ihn beleben, mit einem kurzen Gesang, dann frühstückt er Reis und Kräutersuppe und fährt lachend mit dem Auto in seine Praxis. Einmal hielt ihn eine Polizeistreife an, weil sie glaubten, er sei betrunken. »Ich bin nicht betrunken, ichmache meine spirituellen Übungen«, erklärte Miki den Polizisten. Die dachten, er wolle sie auf den Arm nehmen. Freude ist verdächtig.
Vor kurzem ging ich mit Lori zum Vortrag eines katholischen Theologen aus Irland. Obwohl sein Englisch gewöhnungsbedürftig und ich ahnungslos war, nahm ich doch etwas aus dieser Veranstaltung mit, die mit einer kurzen Meditationsübung begann. Der Ire bat die Anwesenden, die Augen zu schließen, sich zu entspannen, sich auf die Atmung zu konzentrieren, kurz, was in solchen Fällen üblich ist, und forderte uns dann auf, an unseren Lieblingsplatz zu denken – ich wählte einen Baumstamm in deinem Wald – und an eine Gestalt, die sich uns nähert und uns gegenüber Platz nimmt. Wir sollten uns in den grenzenlosen Blick dieses Gegenübers versenken, das uns liebt, wie wir sind, mit unseren Unzulänglichkeiten und unseren Stärken, ohne über uns zu richten. Das, sagte der Mann, sei das Antlitz Gottes. Mir war eine
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