Das Siegel der Tage
Frau um die sechzig erschienen, eine rundliche Afrikanerin: ein draller Körper und das Gesicht ein einziges Lächeln, der Blick keck, die Haut schimmernd und glatt wie poliertes Ebenholz, nach Rauch und Honig duftend, eine so mächtige Gestalt, daß selbst die Bäume sich zum Zeichen der Hochachtung neigten. Sie sah mich an, wie ich dich, wie ich Nico und wie ich meine Enkel angesehen hatte, als ihr klein wart: ein vorbehaltloses Annehmen. Ihr wart vollkommen, von den durchsichtigen Öhrchen bis hin zum Geruch aus der benutzten Windel, und ich wünschte, daß ihr eurem Wesen immer treu bleiben würdet, wollte euch vor allem Bösen beschützen, euch an der Hand nehmen und führen, bis ihr gelernt hättet, auf den eigenen Füßen zu stehen. Diese Liebe war nichts als Glück und Freude, trotz der darin enthaltenen, beängstigenden Gewißheit, daß jeder Augenblick, der verstrich, euch ein bißchen veränderte und von mir entfernte.
Schließlich waren meine Enkelkinder alt genug, um sie auf Porphyrie zu untersuchen. In Kalifornien hatten meine Mitschwestern vom Durcheinander, in Chile Pía und meine Mutter seit Jahren für meine Familie gebetet, während ich mich gefragt hatte, ob das etwas helfen würde. Man hat schon die strengsten Tests gemacht, die Ergebnisse sind jedoch widersprüchlich, und so bleibt unklar, ob Beten etwas bewirkt, was für jeden, der sein Leben damit zubringt, für das Wohl der Menschheit zu beten, ein Tiefschlag sein muß, meine Schwestern vom Durcheinander und mich selbst jedoch nicht entmutigt. Wir beten weiter, nur für den Fall. Lucille, Loris Mutter, wurde ein Tumor in der Brust diagnostiziert, als ich eben auf Lesereise durch den tiefen Süden der Vereinigten Staaten war, Heimat des christlichen Extremismus. Willie wiederum saß zur selben Zeit in der Sportmaschine eines Freundes und ließ sich in dieser Blechlibelle kreuz und quer über die Anden von Kalifornien nach Chile fliegen, ein Unternehmen für Irre.
Vierzig Millionen Amerikaner nennen sich wiedergeborene Christen – born again Christians –, und die meisten von ihnen leben in der Mitte und im Süden des Landes. Minuten bevor ich auf die Bühne mußte, kam ein Mädchen zu mir und bot mir an, für mich zu beten. Ich bat sie, anstatt für mich, für Lucille zu beten, die gerade im Krankenhaus war, und für meinen Mann Willie, der in irgendeiner Andenschlucht sein Leben lassen konnte. Sie nahm meine Hände, schloß die Augen und stimmte laut einen Singsang an, womit sie weitere Leute anlockte, die sich dem Kreis anschlossen, voller Inbrunst Jesus anriefen und in jedem Satz die Namen von Lucille und Willie nannten. Nach der Lesung rief ich Lori an, um zu fragen, wie es ihrer Mutter gehe, und erfuhr, daß die Operation nicht stattgefunden hatte, weil Lucille, ehe man sie in den OP brachte, noch einmal untersucht worden war und man den Tumor nicht gefunden hatte. Acht Mammographien und eineUltraschalluntersuchung hatte man an diesem Morgen mit ihr gemacht. Nichts. Der Chirurg, der die Handschuhe bereits übergestreift hatte, entschied, den Eingriff auf den nächsten Tag zu verschieben, und schickte Lucille in ein anderes Krankenhaus zum Kernspin. Auch dort fanden sie das Geschwür nicht. Das war völlig unerklärlich, noch ein paar Tage zuvor hatte eine Biopsie den Krebsverdacht bestätigt. Es hätte sich eindeutig um ein durch Gebet bewirktes Wunder gehandelt, wäre der Tumor nicht zwei Wochen später wiederaufgetaucht. Lucille mußte doch noch operiert werden. Allerdings erlebte Willie an ebendem Tag des Gebets über Panama einen Wechsel des Luftdrucks, durch den das kleine Flugzeug mit der Nase voran binnen Sekunden zweitausend Meter in die Tiefe stürzte. Das Geschick von Willies Freund, der das mechanische Insekt bediente, rettete die beiden um Haaresbreite vor einem spektakulären Tod. Oder waren es diese christlichen Fürbitten?
Soviel meine Freundinnen auch gebetet hatten und ich dich um Hilfe ersuchte, Paula, die Untersuchungen von Andrea und Nicole brachten schlechte Nachrichten. Wie du selbst bitter erfahren mußtest, ist Porphyrie für Frauen gefährlicher als für Männer, weil die natürlichen Hormonschwankungen Schübe auslösen können. Wir würden mit der Angst leben müssen, daß in unserer Familie noch einmal etwas Schreckliches geschah. Nico erinnerte mich daran, daß die Aussicht auf eine normales Leben nicht verringert oder gar unmöglich gemacht wird, das Risiko sei nur bei bestimmten Auslösern erhöht, und
Weitere Kostenlose Bücher