Das Siegel der Tage
die ließen sich vermeiden. Bei dir waren schlimme Zufälle und Ärztepfusch zusammengekommen, du hattest böses Pech gehabt. »Wir treffen Vorkehrungen, aber ohne zu übertreiben«, sagte dein Bruder. »Das ist ärgerlich, aber etwas Gutes hat es doch: Die Mädchen werden lernen, auf sich achtzugeben, und wir haben einen guten Vorwand, sie mehr oder weniger in unserer Nähe zu haben. Diese Bedrohung wird unsenger zusammenschweißen.« Er versprach mir, durch die Fortschritte in der Medizin würden die Mädchen gesund bleiben, Kinder haben und lange leben; die Genforschung werde eines Tages dafür sorgen, daß Porphyrie nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben werde. »Sie ist viel harmloser als Diabetes und andere Erbkrankheiten«, sagte er noch.
Zu der Zeit hatten Nico und ich die Hindernisse der vorangegangenen Jahre überwunden, wir hatten uns voneinander abgenabelt, ohne unsere Zuneigung zu verlieren. Die Nähe war geblieben, aber ich hatte gelernt, seine Unabhängigkeit zu respektieren, und mühte mich redlich, ihm nicht auf die Nerven zu gehen. Ich war wie vernarrt in meine Enkel und hatte Jahre gebraucht, um einzusehen, daß sie nicht meine Kinder waren, sondern die von Nico und Celia. Weiß der Himmel, wieso ich etwas derart Naheliegendes so lange nicht einsehen wollte, etwas, das alle Großmütter der Welt wissen, ohne daß ein Therapeut es ihnen begreiflich machen muß. Dein Bruder und ich gingen eine Zeitlang zusammen zur Therapie und trafen sogar schriftliche Vereinbarungen, um bestimmte Grenzen und Regeln des Miteinanders festzusetzen, obwohl wir nicht sehr streng sein konnten. Das Leben ist kein Foto, auf dem man alles hübsch arrangiert und dann für die Nachwelt festhält; das Leben ist ein schmutziges, ungeordnetes, schnelles Werden voller Überraschungen. Fest steht nur, daß alles sich ändert. Trotz der schriftlichen Absprachen tauchten zwangsläufig Schwierigkeiten auf, es hatte also wenig Sinn, sich zu viele Sorgen zu machen, sich ständig zu streiten oder zu versuchen, noch die kleinste Kleinigkeit vorherzusehen; wir mußten uns dem täglichen Strom der Ereignisse überlassen, auf unser Glück und unsere guten Absichten vertrauen, denn keiner von uns tat dem anderen vorsätzlich weh. Wenn ich mich danebenbenahm – und ich benahm mich oft daneben –, machte Nico mich feinfühlig wie immer daraufaufmerksam, und so trieb uns das nicht mehr auseinander. Seit Jahren sehen wir uns fast jeden Tag, aber ich staune immer wieder über diesen großgewachsenen, sportlichen Mann, der die ersten grauen Strähnen hat und so gelassen wirkt. Sähe er seinem Großvater väterlicherseits nicht so auffallend ähnlich, ich würde mich ernsthaft fragen, ob sie ihn mir nach der Geburt im Krankenhaus untergejubelt haben und irgendwo auf der Welt eine Familie mit einem zu klein geratenen Hitzkopf lebt, der meine Gene in sich trägt. Nico geht es viel besser, seit er seine Stelle aufgegeben hat. Das Unternehmen, für das er jahrelang arbeitete, verlagerte die Produktion nach Indien, um Kosten zu senken, und entließ die gesamte Belegschaft außer Nico, der die Programme mit dem Büro in Neu Delhi hätte koordinieren sollen, das aber aus Solidarität mit seinen Kollegen ablehnte. Jetzt arbeitet er freiberuflich für eine Bank in San Francisco und handelt daneben ziemlich erfolgreich mit Wertpapieren. Er besitzt ein gutes Gespür und den nötigen kühlen Kopf, genau wie Lori und ich das bereits vor geraumer Zeit vermuteten, aber das haben wir ihm nicht unter die Nase gerieben; im Gegenteil, wir fragten ihn, wie er auf diese glänzende Idee gekommen ist. Und ernteten dafür einen dieser Blicke, die Glas zum Splittern bringen.
Der goldene Drache
Daß die Bewegung der Evangelikalen sich im Aufwind befand, lieferte mir Stoff für den zweiten Band der Trilogie. Die konservativen Christen, die von den Republikanern für die Präsidentschaftswahlen des Jahres 2000 sehr erfolgreich mobilisiert wurden, sind immer schon zahlreich gewesen, haben jedoch die traditionell säkular ausgerichtete Politik hierzulande nicht bestimmt. Während der Regierungszeit George W. Bushs erreichten die Evangelikalen nicht alles, was sie sich vorgenommen hatten, aber die Veränderungen waren doch deutlich zu spüren. An vielen Lehranstalten wird Darwins Evolutionstheorie nicht mehr unterrichtet, statt dessen ist die Rede von »intelligentem Design«, ein Begriff, hinter dem sich die biblische Schöpfungslehre verbirgt. Angeblich ist
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