Das Siegel der Tage
die Erde zehntausend Jahre alt, und wer etwas anderes als bewiesen ansieht, ist des Teufels. Die Ranger im Grand Canyon müssen sich die Touristen schon genau ansehen, ehe sie ihnen erklären, an den Gesteinsschichten ließen sich zwei Milliarden Jahre Erdgeschichte ablesen. Werden in Norwegen zwanzig fossile Meerestiere gefunden, die groß wie Autobusse und älter als die Dinosaurier sind, vermuten die Gläubigen dahinter eine Verschwörung von Atheisten und Freidenkern. Sie sind gegen Abtreibung und jede Form der Geburtenkontrolle, mit Ausnahme von Enthaltsamkeit, rühren aber gegen die Todesstrafe oder den Krieg keinen Finger. Etliche Baptistenprediger beharren darauf, die Frau sei dem Manne untertan, und wischen ein Jahrhundert des Kampfes für Gleichberechtigung einfach vom Tisch. Unzählige Familien unterrichten ihre Kinder zu Hause, damit sie nicht auf staatlichen Schulen mit säkularem Gedankengut in Berührung kommen, und später besuchen diese jungen Leute christliche Universitäten. Siebzig Prozentderjenigen, die während Bushs Regierungszeit im Weißen Haus aus und ein gingen, entstammen solchen Hochschulen. Ich kann nur hoffen, daß sie nicht die führenden politischen Köpfe von morgen sind.
Meine Enkel leben im kalifornischen Biotop, wo man diese Entwicklungen ähnlich bestaunt wie die Vielweiberei einiger Mormonen in Utah, aber durch die Gespräche der Erwachsenen in der Familie kriegen sie doch manches mit. Ich wollte von ihnen wissen, wie sie sich eine Weltsicht denken, die niemanden ausgrenzt, eine reine Religiosität, die nicht fundamentalistisch wäre. Noch hatte ich keine genauen Vorstellungen, doch traten sie in meinen Gesprächen mit den dreien und mit Tabra langsam hervor, mit der ich in diesen Monaten fast täglich lange Spaziergänge unternahm, weil sie noch die schwere Trauer um ihren Vater durchlebte. Sie erinnerte sich an Gedichte und die Namen von Bäumen und Blumen, die sie als Kind von ihm gelernt hatte.
»Warum sehe ich ihn nicht, wie du Paula siehst?« quälte sie sich.
»Ich sehe sie nicht, ich spüre sie in mir und stelle mir vor, daß sie mich begleitet.«
»Ich träume noch nicht einmal von ihm …«
Wir sprachen über die Bücher, die ihm gefallen hatten, darunter einige, die er im Unterricht nicht hatte behandeln dürfen, weil sie der Schulleitung nicht genehm gewesen waren. Bücher, immer wieder Bücher. Tabra schluckte ihre Tränen hinunter und war Feuer und Flamme, wenn wir auf meinen nächsten Roman zu sprechen kamen. Es war ihre Idee, Bhutan als Modell für das mystische Land zu nehmen, das ich mir wünschte, das »Reich des Donnerdrachen«, wie seine Einwohner das Land nennen, das Tabra auf einer ihrer Fahrten der nimmermüden Pilgerin besucht hatte. Wir änderten den Namen in »Reich des Goldenen Drachen«, und sie schlug vor, der Drache solle eine magische Statue sein, mit der sich die Zukunft vorhersehen ließe. Mir gefielder Gedanke, daß jedes der drei Bücher in einem anderen Kulturkreis und auf einem anderen Kontinent spielen würde, und um mir den Schauplatz auszumalen, dachte ich an meine Reise nach Indien, mit der ich ein Versprechen an dich eingelöst hatte, Paula, und an eine andere nach Nepal. Du warst überzeugt, Indien sei eine bewußtseinserweiternde Erfahrung, und damit solltest du recht behalten. Mir erging es wie mit meinen Reisen ins Amazonasgebiet oder nach Afrika: Ich hatte geglaubt, das Gesehene sei meinem Leben so fremd, daß ich es niemals in einem Buch würde verwenden können, aber die Saat keimte in mir, und die Früchte sind schließlich in dieser Jugendbuchtrilogie zu finden. Früher oder später kann man alles brauchen, wie Willie sagt. Wäre ich nie in diesem Teil der Welt gewesen, ich hätte die Farbigkeit nicht beschreiben können, die Zeremonien, die Kleidung, die Landschaft, ihre Menschen, das Essen, die Religion oder die Art zu leben.
Wieder waren mir meine Enkel eine große Hilfe. Wir erfanden eine Religion, die Elemente des tibetischen Buddhismus mit animistischen Vorstellungen verbindet und mit manchem, was die drei in Fantasy-Romanen gelesen hatten. Andrea und Nicole gehen auf eine recht liberale katholische Schule, in der Wahrheitssuche, Seelenbildung und Nächstenliebe wichtiger sind als das Dogma. Meine Enkelinnen sind dort ohne religiöse Vorkenntnisse gelandet. In der ersten Woche sollte Nicole in einer Hausaufgabe den Sündenfall erklären.
»Ich habe keine Ahnung, was das ist«, sagte sie.
»Ich gebe dir einen
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