Das Siegel der Tage
Tip«, erbot sich Lori. »Er kommt in der Geschichte von Adam und Eva vor.«
»Wer sind die denn?«
»Ich glaube, die Sünde hat was mit einem Apfel zu tun«, versuchte es Andrea ohne große Überzeugung.
»Sind Äpfel nicht angeblich gesund?« hielt Nicole dagegen.
Wir vergaßen den Sündenfall, sprachen statt dessen über die Seele, und so nahm die Religiosität im Reich des Goldenen Drachen immer deutlichere Gestalt an. Die Mädchen hörten gern etwas über Zeremonien, Rituale und Traditionen, und Alejandro begeisterte sich für übersinnliche Fähigkeiten wie Telepathie und Telekinese. Damit hatte ich meine Anhaltspunkte und begann mit dem Schreiben, und wenn ich nicht weiterkam, erinnerte ich mich an das Ayahuasca und an meine eigene Kindheit oder wandte mich wieder an Tabra und die Kinder. Andrea half mir beim Plot, und Alejandro dachte sich die Hindernisse aus, durch die der goldene Drache geschützt ist: ein Labyrinth, Gifte, Schlangen, Fallgruben, Messer und Lanzen, die aus der Decke rasseln. Die Yetis sind Nicoles Schöpfung, die schon immer gern einen dieser mutmaßlichen Schneekolosse kennengelernt hätte, und von Tabra stammen die »blauen Reiter«, eine verbrecherische Sekte, von der sie auf einer Reise durch Nordindien hörte.
Mit Hilfe meines tüchtigen Mitarbeiterstabs konnte ich das zweite Jugendbuch in drei Monaten abschließen und beschloß, in der gewonnenen Zeit an einem Büchlein über Chile zu feilen. Schon im Titel, Mein erfundenes Land , wird klar, daß es nicht um einen ausgewogenen, sondern um einen rein subjektiven Blick auf mein Land geht. Meine Erinnerungen sind durch die räumliche und zeitliche Distanz von einer Patina überzogen, die golden glitzert wie manche der Tafelbilder in Kirchen aus der Kolonialzeit. Nachdem sie die erste Fassung gelesen hatte, fürchtete meine Mutter, in Chile, wo sich die Kritiker bestenfalls das Maul über mich zerreißen, werde der spöttische Grundton des Buchs als Ohrfeige verstanden. »Wir sind ein Land der todernsten Trottel«, warnte sie mich, aber ich wußte, daß sie sich irrte. Das eine sind die Literaten, etwas anderes wir Chilenen, die ohne intellektuelles Getue auskommen,dafür aber durch die Jahrhunderte einen absonderlichen Sinn für Humor entwickelt haben, der es uns ermöglicht, in diesem Erdbebengebiet nicht den Mut zu verlieren. In meiner Zeit als Journalistin habe ich gelernt, daß die Chilenen über nichts so herzhaft lachen wie über sich selbst, solange es kein Ausländer ist, der den Witz macht. Ich hatte mich nicht getäuscht, jedenfalls kamen im Jahr darauf, als mein Buch erschien, keine Tomaten aus dem Publikum geflogen. Es gab sogar einen Raubdruck. Zwei Tage nach Erscheinen stapelten sich in den Straßen im Zentrum von Santiago zwischen jeder Menge CDs, Videos und nachgemachten Designerbrillen und -taschen die Raubkopien für ein Viertel des offiziellen Preises. In wirtschaftlicher Hinsicht sind Raubdrucke für Verlage und Autoren ein Desaster, aber in gewisser Weise sind sie auch eine Ehre, weil sie beweisen, daß viele Leute das Buch lesen und auch diejenigen es kaufen wollen, für die es sonst nicht erschwinglich wäre. Chile ist auf der Höhe der Zeit. In Asien wird Harry Potter völlig unverfroren kopiert, es ist sogar schon ein Band erschienen, den die Autorin noch gar nicht geschrieben hat. Mit anderen Worten, dort sitzt eine kleine Chinesin in einer staubigen Dachkammer und schreibt wie J. K. Rowling, nur daß keiner sie kennt.
Das Chile, das ich liebe, ist das Chile meiner Jugendjahre, als du und dein Bruder klein wart, ich in deinen Vater verliebt war und als Journalistin arbeitete und wir in einem Fertighäuschen mit Strohdach lebten. Damals schien unsere Zukunft genau vorgezeichnet, und nichts Schlimmes konnte uns geschehen. Das Land veränderte sich. 1970 war Salvador Allende zum Präsidenten gewählt worden, und Chile erlebte einen politischen und kulturellen Aufbruch, das Volk ging im nie gekannten Gefühl von Macht auf die Straße, Jugendliche malten sozialistische Wandbilder, überall hörte man Protestlieder. Das Land war gespalten und mit ihm die Familien, auch unsere. Deine Granny schritt an derSpitze der Demonstrationen gegen Allende, auch wenn sie dafür sorgte, daß die Marschierenden nicht unmittelbar an unserem Haus vorbeizogen und es mit Steinen bewarfen. Außerdem war es die Zeit der sexuellen Revolution und der Frauenbefreiung, die gesellschaftlich mindestens so wichtig waren wie die politischen
Weitere Kostenlose Bücher