Das Siegel der Tage
Umbrüche und die für mich persönlich prägend wurden. Dann kam 1973 der Putsch und danach die Gewalt, und unsere kleine Welt, in der wir uns geborgen gefühlt hatten, war dahin. Was wäre ohne diesen Militärputsch und die Schreckensjahre aus uns geworden? Wie wäre es uns ergangen, wären wir während der Diktatur in Chile geblieben? Wir hätten niemals in Venezuela gelebt, du hättest Ernesto nicht kennengelernt und Nico Celia nicht, ich hätte vielleicht niemals Bücher geschrieben oder je die Gelegenheit bekommen, mich in Willie zu verlieben, und wäre heute nicht in Kalifornien. Solche Gedankenketten sind sinnlos. Den Lebensweg geht man ohne Karte, man setzt einen Fuß vor den anderen, und ein Zurück gibt es nicht. Mein erfundenes Land ist eine Hommage an die magischen Gefilde des Herzens und der Erinnerungen, an das ärmliche und friedfertige Land, in dem du und Nico die glücklichsten Jahre eurer Kindheit verbrachtet.
Der zweite Band meiner Jugendbuchtrilogie war bereits bei etlichen Übersetzern in Arbeit, aber mir gelang es partout nicht, mich auf das Buch über Chile zu konzentrieren, weil mich ständig derselbe Traum plagte. Ich träumte von einem Baby in einem verwinkelten Keller, der von Rohren und Kabeln durchzogen war wie im Haus meines Großvaters, wo ich als Kind oft stundenlang allein gespielt habe. Ich konnte nach dem Säugling greifen, ihn aber nicht dort herausholen. Ich erzählte Willie den Traum, und der erinnerte mich daran, daß ich nur von Babys träume, wenn ich schreibe, der Traum also bestimmt etwas mit meinem neuen Buch zu tun hatte. Weil ich fürchtete, er könne mit Im Reich des Goldenen Drachen zusammenhängen, sah ich das Manuskriptnoch einmal durch, aber mir fiel nichts auf. Über Wochen ließ der Traum mich nicht in Frieden, bis ich schließlich die englische Übersetzung des Buchs bekam, es durch den Abstand der anderen Sprache mit unverstelltem Blick noch einmal lesen konnte und auf einen groben Schnitzer in der Handlung stieß: Ich hatte die beiden Hauptfiguren Alexander und Nadia etwas wissen lassen, was sie zu diesem Zeitpunkt im Buch unmöglich wissen konnten und was für den Ausgang der Geschichte entscheidend war. Ich mußte meine Übersetzer informieren und ein Kapitel umschreiben. Ohne diesen in einem labyrinthischen Keller eingesperrten Säugling, der Nacht für Nacht meine Geduld strapazierte, wäre mir der Fehler durch die Lappen gegangen.
Unheilvolle Mission
Die Grundfrage des letzten Bandes meiner Jugendbuchtrilogie ergab sich spontan während einer Friedensdemonstration, zu der wir im Familienkreis gingen, nachdem wir einen Sonntagsgottesdienst in einer berühmten Methodistenkirche von San Francisco besucht hatten: der Glide Memorial Church. In ihr mischen sich Rassen, Weltanschauungen und sogar Religionen, sie ist Treffpunkt für Buddhisten, Katholiken, Juden, Protestanten, den einen oder anderen Moslem und etliche Agnostiker, die gern an einer Feier teilhaben, in der Gesang und Umarmungen wichtiger sind als Gebete. Der afroamerikanische Pastor ist eine Wucht, er trifft einen mit seinen mitreißenden Friedenspredigten mitten ins Herz, noch dazu in einer Zeit, in der diesem Thema ein antipatriotischer Ruch anhaftete. Die versammelte Gemeinde applaudierte im Stehen, bis die Handflächen schmerzten, und nach dem Gottesdienst schlossen sich viele draußen dem Protestmarsch gegen den Irakkrieg an.
Mitten im Getümmel fand die gesamte Sippe zusammen, inklusive Celia, Sally und Tabra. Die Kinder hatten Transparente gemalt, ich hielt Andrea an der Hand, damit sie in der Menge nicht verlorenging, und Nicole saß auf den Schultern ihres Vaters. Die Sonne schien, und die Stimmung unter den Leuten war ausgelassen, vielleicht weil wir sehen konnten, daß wir nicht allein waren mit unseren abweichlerischen Ansichten. Wobei fünfzigtausend im Zentrum von San Francisco versammelte Menschen nicht mehr als ein Floh auf dem Buckel des Weltreichs sind. Dieses Land ist ein parzellierter Kontinent, und man kann unmöglich absehen, welche der vielen Meinungen wie stark zum Tragen kommt, weil jede Bevölkerungsschicht und soziale Gruppe, jede Ethnie oder Religionsgemeinschaft einen kleinen Staatfür sich bildet unter dem schützenden Schirm der USA, dem »land of the free and home of the brave«. Das mit der »Heimat der Tapferen« klang gerade wie Hohn, denn es herrschte die nackte Angst. Ernesto hatte sich den Bart abnehmen müssen, damit man ihn nicht vor jeder Reise aus dem
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