Das Siegel der Tage
Oberst, grausam wie der in meinem Buch, die Kontrolle über eine sumpfige Waldregion im Norden des Kongo, wo er die Bantubevölkerung in Angst und Schrecken versetzte und die Pygmäen ausrottete, um den Handel mit Diamanten, Gold und Waffen ausweiten zu können. Es war sogar von Kannibalismus die Rede, den ich aus Rücksicht auf meine jungen Leser in meinem Buch nicht zu erwähnen gewagt hätte.
Yemayá und die Fruchtbarkeit
Der Frühling des Jahres 2003 löste in meiner Familie einen unbändigen Drang nach Fortpflanzung aus. Lori und Nico, Ernesto und Giulia, Tong und Lili, alle wünschten sich Kinder, doch es war wie verhext und wollte keinem der Paare auf herkömmlichem Weg gelingen, so daß sie auf die Errungenschaften von Medizin und Technik zurückgreifen mußten, auf aberwitzig teuere Methoden, die von mir finanziert werden mußten. Man hatte mich in Brasilien gewarnt, daß ich der Göttin Yemayá angehöre, zu deren Gaben die Fruchtbarkeit gehört: Zu ihr kommen die Frauen, die Mutter werden wollen. Es waren so viele Fruchtbarkeitsmedikamente, Hormonpräparate und Samenzellen im Umlauf, daß ich fürchtete, ebenfalls schwanger zu werden. Im Jahr zuvor hatte ich heimlich meine Astrologin konsultiert, weil meine Träume ausblieben. Früher hatte ich immer gewußt, wie viele Kinder und Enkelkinder ich haben würde, hatte von ihnen sogar mit Namen geträumt; doch so sehr ich mich auch anstrengte, es stellten sich keine nächtlichen Bilder ein, die mir einen Anhaltspunkt zu den drei Paaren gegeben hätten. Ich bin der Astrologin nie persönlich begegnet, besitze nur ihre Telefonnummer in Colorado, vertraue ihr jedoch, weil sie ohne weiteres meine Familie beschreiben konnte, als wäre es ihre. Nur von Nico hat sie bisher kein Horoskop erstellt, denn ich erinnere mich nicht an die genaue Uhrzeit seiner Geburt, und er weigert sich, mir seine Geburtsurkunde zu geben, aber die Frau sagt, dieser Sohn sei mein bester Freund und in einem früheren Leben mein Ehemann gewesen. Logisch, daß er über diese erschreckende Möglichkeit nichts weiter wissen will und die Urkunde versteckt. Dein Bruder glaubt nicht an Wiedergeburt, weil die mathematisch ausgeschlossen ist, und anAstrologie glaubt er natürlich erst recht nicht, aber er geht lieber auf Nummer Sicher. Auch ich glaube nicht alles unbesehen, doch sollte man sich vor einem für die Literatur so nützlichen Mysterium nicht gänzlich verschließen.
»Wie erklärst du dir, daß die Frau so viel über mich weiß, Nico?«
»Sie hat dich im Internet gesucht und Paula gelesen.«
»Wenn sie über jeden Klienten erst Erkundigungen einziehen wollte, um zu tricksen, müßte sie eine Schar Mitarbeiter haben und viel teurer sein. Willie ist völlig unbekannt und taucht nicht im Internet auf, sie konnte ihn aber trotzdem beschreiben: groß, breitschultrig, kräftiger Hals, gutaussehend.«
»Das ist sehr subjektiv.«
»Was heißt hier subjektiv, Nico! Von meinem Bruder Juan würde kein Mensch behaupten, er sei groß und breitschultrig, habe einen kräftigen Hals und sehe gut aus.«
Wie dem auch sei, es bringt nichts, über diese Dinge mit deinem Bruder zu streiten. Die Astrologin hatte mir jedenfalls schon gesagt, daß Lori keine eigenen Kinder bekommen konnte, aber »Mutter mehrerer Kinder« sein würde. Ich dachte natürlich sofort, daß sie die Mutter meiner Enkel sein würde, aber offensichtlich gab es noch andere Möglichkeiten. Über Ernesto und Giulia sagte sie, die beiden sollten bis zum nächsten Frühjahr warten, dann stünden die Sterne ideal, und vorher werde die Behandlung nicht anschlagen. Tong und Lili wiederum müßten viel länger warten, und auch dann sei nicht sicher, ob sie ein eigenes Kind oder vielleicht ein adoptiertes haben würden. Ernesto und Giulia beschlossen, auf die Sterne zu hören, und begannen mit der Fruchtbarkeitsbehandlung im Frühjahr 2004. Fünf Monate später war Giulia schwanger, blähte sich auf wie ein Heißluftballon, und bald war klar, daß sie zwei Mädchen erwartete.
Eines Tages unterhielten sich Juliette, Giulia, Lori und ichim Restaurant darüber, daß die Hälfte aller jungen Frauen in unserem Bekanntenkreis, die Friseurin und die Yogalehrerin inbegriffen, Kinder erwarteten oder gerade bekommen hatten.
»Erinnerst du dich noch an meinen Vorschlag, ein Kind für dich zu bekommen, Isabel?« sagte Juliette.
»Ja. Und daß ich geantwortet habe, es sei das letzte, was ich in meinem Alter brauchen könne.«
»Damals hatte ich
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