Das Siegel der Tage
gesagt, ich würde das nur für dich tun, aber mittlerweile denke ich, ich täte es auch für Lori.«
Für einen Augenblick war es mucksmäuschenstill an unserem Tisch, während Juliettes Worte sich einen Weg zu Loris Herz bahnten, die in Tränen ausbrach, als sie begriff, was ihre Freundin ihr gerade angeboten hatte. Ich weiß nicht, was der Kellner dachte, jedenfalls brachte er unaufgefordert Schokoladenkuchen für alle auf Kosten des Hauses.
Damit begann ein langwieriges und kompliziertes Verfahren, das Lori Schritt für Schritt mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit und ihrem Organisationsgeschick in gut einem Jahr über die Bühne brachte. Erst mußte wegen der Porphyrie entschieden werden, ob Nico der Vater sein sollte. Sie besprachen sich miteinander und mit der Familie und wollten das Risiko schließlich eingehen, weil Lori viel daran lag, daß das Kind von ihrem Mann stammte. Dann mußte eine Spenderin für die Eizelle gefunden werden; Juliette kam nicht in Frage, weil sie das Kind nachher nicht würde hergeben können, wenn es ihr eigenes war. Über die Klinik fanden sie eine brasilianische Spenderin, die dir, Paula, ein bißchen ähnlich sah und gut zur Familie hätte gehören können. Sie mußte sich starken Hormongaben unterziehen, um die Produktion von Eizellen anzuregen, die dann geerntet werden konnten, und Juliette nahm ebenfalls Hormone, um ihren Bauch vorzubereiten. Die Eizellen wurden im Labor befruchtet und Juliette dann eingepflanzt. Ich machte mir Sorgen um Lori, der womöglich die nächste Enttäuschungbevorstand, aber mehr noch um Juliette, die über vierzig war, Witwe mit zwei Kindern. Was würde aus Aristoteles und Achill werden, wenn ihr etwas zustieße? Als hätte sie meine Gedanken erraten, bat Juliette Willie und mich darum, daß wir uns ihrer Kinder annähmen, falls etwas Schlimmes passierte. Das war schon nicht mehr Wirklichkeit, das war magischer Realismus.
Organhandel
Tongs junge Ehefrau Lili ertrug ein Jahr lang die Gemeinheiten ihrer Schwiegermutter, dann war sie mit ihrer Unterwürfigkeit am Ende. Wäre ihr Mann nicht dazwischengegangen, sie hätte die Alte mit bloßen Händen erwürgt, ein leicht zu vollbringendes Verbrechen, denn die hatte einen Hals wie ein Hühnchen. Das Geschrei, das die drei veranstalteten, muß gewaltig gewesen sein, jedenfalls schickte das Police Department von San Francisco einen Beamten, der Chinesisch sprach, um den Streit zu schlichten. Lili hatte mittlerweile bewiesen, daß es ihr ernst gewesen war, als sie sagte, sie sei nicht wegen einer Aufenthaltsgenehmigung nach Amerika gekommen, sondern um eine Familie zu gründen. Sie dachte überhaupt nicht daran, sich scheiden zu lassen, obwohl sie diesen Drachen zur Schwiegermutter hatte und Tong so gemein war, ihr zu unterstellen, sie werde die Scheidung einreichen, sobald die zwei Jahre, die das Gesetz für ein Visum vorsah, vorüber wären.
Durch den fehlgeschlagenen Erdrosselungsversuch begriff Tong, daß das gefügige Weibchen, das er im Internet bestellt hatte, ein echter Haudegen war. Seine Mutter, die mit ihren über siebzig Jahren das Fürchten gelernt hatte, ließ ihn wissen, sie könne nicht länger mit dieser Schwiegertochter unter einem Dach leben, von der sie womöglich unversehens zu den Ahnen geschickt werde. Sie stellte ihn vor die Wahl, sich zwischen dieser, wie sie sagte, brutalen, auf zweifelhaftem elektronischen Weg erhaltenen Ehefrau und ihr zu entscheiden, seiner leiblichen Mutter, mit der er von jeher gelebt hatte. Lili ließ nicht zu, daß ihr Mann lange darüber nachdachte. Sie gab keinen Fingerbreit nach und erreichte, daß nicht sie, sondern ihre Schwiegermutter das Feld räumte. Tong brachte seine Mutter in Chinatownin einer Wohnung für ältere Leute unter, wo sie heute mit anderen Damen ihres Alters Mah-Jongg spielt. Er und Lili verkauften das Haus und erwarben ein kleineres und moderneres in unserer Nähe. Lili krempelte die Ärmel hoch und ging daran, sich ein Heim zu schaffen, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Sie strich die Wände, jätete Unkraut, hängte weiße, gestärkte Gardinen auf, kaufte helle, schön gearbeitete Möbel, pflanzte Büsche und Blumen. Sie legte sogar eigenhändig Bambusböden und setzte Sprossenfenster.
Ich erfuhr all diese Einzelheiten in sehr kleinen Häppchen durch Gesten, Zeichnungen und die wenigen auf englisch geradebrechten Wörter, die Lili und ich gemeinsam haben, bis meine Mutter im Sommer aus Chile kam und es keine fünf Minuten
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