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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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dauerte, da saßen sie und Lili im Wohnzimmer beim Tee und unterhielten sich wie alte Freundinnen. Mir ist schleierhaft, in welcher Sprache, weder spricht Lili Spanisch noch meine Mutter Mandarin, und das Englisch der beiden läßt ziemlich zu wünschen übrig.
    Zwei Tage später behauptete meine Mutter, wir seien bei Lili und Tong zum Abendessen eingeladen. Ich erklärte ihr, das könne nicht sein, sie müsse das falsch verstanden haben. Tong kenne Willie sein halbes Leben, und das einzige gesellschaftliche Ereignis, das er je mit uns geteilt habe, sei Nicos Hochzeit gewesen, und das auch nur, weil Lori ihm keine Wahl gelassen habe. »Mag ja sein, aber heute abend essen wir bei ihnen.« Sie blieb so hartnäckig dabei, daß ich schließlich beschloß, mit ihr hinzugehen, damit sie Ruhe gab, mir dachte, wir könnten unter irgendeinem Vorwand klingeln, und dann würde sie sehen, daß sie sich geirrt hatte, aber als wir ankamen, saß Lili auf einem Stuhl vor der Haustür und erwartete uns. Ihr Haus trug Sonntagsstaat, überall standen Blumen und in der Küche zwölf verschiedene vorbereitete Gerichte, die sie unter Zuhilfenahme von zwei Holzstäbchen zu Ende kochte. Sie wirbelte sie durchdie Luft, verschob mit der Präzision eines Zauberkünstlers Zutaten von einem Topf in den anderen, während meine Mutter auf dem Ehrenplatz saß und mit ihr auf marsianisch parlierte. Eine halbe Stunde später kamen Willie und Tong, und so hatte ich einen Dolmetscher, um mit Lili zu reden. Nachdem wir das Festessen verputzt hatten, fragte ich sie, weshalb sie ihre Heimat, ihre Familie, ihre Kultur und ihre Arbeit als OP-Schwester verlassen hatte und das erstaunliche Wagnis eingegangen war, einen Unbekannten zu heiraten und nach Amerika zu ziehen, wo sie sich immer als Ausländerin fühlen würde.
    »Wegen der Hinrichtungen«, übersetzte Tong.
    Ich nahm an, er müsse da etwas verwechselt haben, Tongs Englisch ist nicht viel besser als meines, aber Lili wiederholte, was sie gesagt hatte, und erklärte uns dann mit Hilfe ihres Mannes und mit überreichem Mienenspiel, wieso sie eine der vielen Tausend auswanderungswilligen Heiratsanwärterinnen geworden war. Alle drei bis vier Monate, wenn das Gefängnis sich meldete, habe sie den Chefchirurgen des Krankenhauses zu den Hinrichtungen begleiten müssen, sagte sie. Die beiden fuhren im Auto mit einer Kiste Eiswürfel im Kofferraum vier Stunden lang über Feldwege. Im Gefängnis brachte man sie dann in einen Kellerraum, in dem mit gefesselten Händen und verbundenen Augen ein halbes Dutzend Gefangene in einer Reihe standen und auf sie warteten. Der Kommandant gab einen Befehl, und die Aufseher schossen jedem Gefangenen aus nächster Nähe in die Schläfe. Kaum daß die Erschossenen zu Boden sanken, war der Chirurg schon bei ihnen und entnahm ihnen mit Lilis Hilfe die Organe, die für eine Transplantation in Frage kamen: Nieren, Leber, Augen wegen der Hornhaut, kurz, alles, was zu gebrauchen war. Von dem Gemetzel kehrten die beiden blutverschmiert und mit einer Kiste voller menschlicher Organe zurück, die danach auf dem Schwarzmarkt verschwanden. Für gewisseÄrzte und den Leiter des Gefängnisses war es ein dickes Geschäft.
    Lili erzählte uns diese makabre Geschichte mit der Beredsamkeit einer verlebten Stummfilmdiva, verdrehte die Augen ins Weiße, schoß sich in den Kopf, stürzte zu Boden, packte das Skalpell, schnitt, riß Organe heraus, alles so detailgetreu, daß meine Mutter und ich einen nervösen Lachkrampf bekamen, was uns die entgeisterten Blicke der anderen eintrug, die nicht verstehen konnten, was zum Teufel daran komisch sein sollte. Gänzlich hysterisch wurde unser Lachen, als Lili weiter berichtete, einmal habe sich ihr Wagen auf dem Rückweg vom Gefängnis überschlagen, der Chirurg sei auf der Stelle tot gewesen und sie mutterseelenallein im Nirgendwo mit einem völlig entstellten Toten hinter dem Steuer und einer Ladung menschlicher Organe auf Eis. Ich habe mich oft gefragt, ob wir das alles richtig verstanden haben, ob uns Lili einen Bären aufbinden wollte oder diese entzückende Frau, die meine Enkel von der Schule abholt und sich um meine Hündin kümmert wie um eine eigene Tochter, ein solches Grauen erlebt haben kann.
    »Natürlich stimmt es«, meinte Tabra, als ich ihr davon erzählte. »In China gibt es ein Konzentrationslager mit angeschlossenem Krankenhaus, in dem Tausende Menschen verschwunden sind. Sie entnehmen ihnen die Organe bei lebendigem Leib und

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