Das Siegel der Tage
hingen. Apropos: Für kurze Zeit hatten wir drei Kinder in Windeln, was viele Windeln sind. Wir kauften sie in Großhandelspackungen, und am besten bewährte es sich, alle drei Kinder gleichzeitig zu wickeln, ob sie es nun gerade nötig hatten oder nicht. Celia oder Nico breiteten die offenen Windeln auf dem Boden aus, legten die Kleinen darauf und säuberten ihnen wie am Fließband den Popo. Sie konnten das mit einer Hand tun und gleichzeitig mit der anderen telefonieren, aber ich besaß nicht ihr Geschick und war oft bis über beide Ohren gesalbt und gepudert. Sie fütterten und badeten die drei auch mit derselben Fließbandmethode: Nico stellte sich mit ihnen unter die Dusche, seifte sie ein, wusch ihnen die Haare und reichte sie dann nacheinander hinaus, wo Celia sie in ein Handtuch wickelte.
»Du bist eine sehr gute Mutter, Nico«, sagte ich einmal bewundernd zu ihm.
»Nein, Mama, ich bin ein guter Vater«, meinte er.
Doch einen Vater wie ihn hatte ich nie zuvor gesehen, und bis heute ist mir unbegreiflich, woher er das hat.
Mein Buch Paula war fast fertig, ich schrieb an den letzten Seiten, die mir sehr schwerfielen. Am Schluß stand dein Tod, wie sonst hätte es enden sollen, aber ich erinnerte mich nicht genau an diese lange Nacht, die wie in einen Nebelschleier gehüllt war. Mir war, als hätte dein Zimmer sich mit Menschen gefüllt, ich sah Ernesto in seinem weißen Aikido-Anzug vor mir, meine Eltern, die Granny, deine Großmutter, die dich so geliebt hat und die schon vor Jahren in Chile gestorben war, und viele andere, die unmöglich dort gewesen sein können.
»Du warst sehr erschöpft, Mama, wie sollst du dich da an die Einzelheiten erinnern, auch ich weiß sie nicht mehr genau«, entschuldigte mich Nico.
»Und welche Rolle spielt das überhaupt?« ergänzte Willie. »Schreib mit dem Herzen. Du hast gesehen, was uns verborgen blieb. Vielleicht war das Zimmer ja tatsächlich voller Geister.«
Ich öffnete die Keramikurne, in der man uns deine Asche übergeben hatte und die immer auf meinem Schreibtisch stand, demselben Tisch, an dem meine Großmutter ihre Séancen geleitet hatte. Manchmal zog ich ein paar Briefe daraus hervor, oder Fotos, auf denen du vor deinem Unglück zu sehen bist, aber andere, die dich leblos, im Rollstuhl fixiert zeigen, rührte ich nicht an. Ich habe sie nie wieder angerührt, Paula. Selbst heute, so viele Jahre später, kann ich dich nicht in diesem Zustand sehen. Ich las deine Briefe, vor allem diesen einen mit deinem Vermächtnis, deinen Anweisungen für den Fall deines Todes, den du während deiner Flitterwochen geschrieben hattest. Damals warst du erst siebenundzwanzig. Wieso dachtest du schon ans Sterben? Ich schrieb dieses Buch unter vielen, vielen Tränen.
»Was ist mit dir?« fragte mich Andrea in ihrer noch unfertigen Sprache und sah mich mit ihrem Zyklopenauge mitfühlend an.
»Nichts, ich vermisse Paula, das ist alles.«
»Und warum weint Nicole?« fragte sie weiter.
»Weil sie ein Dickschädel ist.« Anders konnte ich mir das nicht erklären.
Wie zuvor bereits Alejandro verfiel nun auch Andrea auf die Idee, dein Tod sei der einzig triftige Grund, um zu weinen. Da sie nur ein Auge gebrauchen konnte, entbehrte ihre Welt der Tiefe, alles sah flach aus, und oft fiel sie hin und brach sich fast den Hals. Mit verbogener Brille kam sie wieder auf die Füße, das Blut lief ihr in Strömen aus der Nase, und schluchzend erklärte sie, sie vermisse ihre Tante Paula.
Als ich das Buch beendet hatte, begriff ich, daß ein quälender Weg hinter mir lag und ich rein und nackt ans Endegelangt war. Diese Seiten enthielten dein lichtes Leben und das Werden unserer Familie. Die schreckliche Wirrnis dieses Jahres war vorüber: Mir war klar geworden, daß mein Verlust nicht einzigartig war, daß ich ihn mit Millionen von Müttern teilte – der älteste und alltäglichste Schmerz der Menschheit. Ich schickte das Manuskript an alle, die darin erwähnt waren, weil sie die Möglichkeit haben sollten, zu korrigieren, was ich über sie geschrieben hatte. Sehr viele waren es nicht, denn ich hatte etliche Personen, die dir nahegestanden hatten, unerwähnt gelassen, wenn sie für den Verlauf unserer Geschichte nicht entscheidend gewesen waren. Alle, die das Manuskript lasen, antworteten mir sofort, waren sichtlich davon bewegt, außer Ildemaro, mein bester Freund aus Venezuela, der dich sehr gemocht hatte und der Meinung war, es hätte dir nicht gefallen, dich auf diese Art
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