Das Siegel der Tage
öffentlich dargestellt zu sehen. Ich teilte diesen Zweifel, denn es ist eine Sache, sich den Schmerz von der Seele zu schreiben und der verlorenen Tochter damit eine letzte Ehre zu erweisen, und eine andere, die Trauer mit der Leserschaft zu teilen. »Man wird dir womöglich Exhibitionismus vorwerfen oder daß du diese Tragödie zum Geldverdienen benutzt, du weißt doch, wie rasch die Leute mit Unterstellungen bei der Hand sind«, warnte mich meine Mutter, die sich Sorgen machte, jedoch überzeugt war, das Buch solle erscheinen. Um allen Vorwürfen dieser Art vorzubeugen, entschied ich, nichts von den möglichen Einnahmen anzurühren; ich würde schon eine uneigennützige Verwendung dafür finden, eine, die du gutgeheißen hättest.
Ernesto lebte damals in New Jersey, wo er für dasselbe multinationale Unternehmen arbeitete wie zuvor in Spanien. Um in deiner Nähe zu sein, hatte er um seine Versetzung gebeten, als wir dich zu mir nach Hause holten, da es in Kalifornien jedoch keine freie Stelle gab, war ihm nur ein Angebot in New Jersey geblieben. Das war zumindest näher als Madrid. Als ich ihm den ersten unsortiertenEntwurf des Buchs geschickt hatte, rief er mich weinend an. Er war seit einem Jahr Witwer, konnte deinen Namen aber noch immer nicht aussprechen, ohne daß ihm die Stimme versagte. Er ermutigte mich damit, du hättest gewollt, daß das Buch erscheint, weil es anderen Menschen in ihrem Verlust und ihrem Leid ein Trost sein könne. Aber dann sagte er auch, er erkenne dich auf diesen Seiten kaum wieder. Die Geschichte war aus meinem eingeschränkten Blickwinkel erzählt. Als Mutter wußte ich nichts über so manchen Teil deiner Persönlichkeit und deines Lebens. Wo war seine Paula, die temperamentvolle und verspielte Geliebte, die neunmalkluge und despotische Ehefrau, die bedingungslose Freundin, die beißende Kritikerin? »Ich werde etwas tun, für das mich Paula, wüßte sie davon, umbringen würde«, kündigte er mir an, und drei Tage später brachte mir die Post eine große Kiste mit den Liebesbriefen, die ihr euch vor der Hochzeit über ein Jahr lang geschrieben habt. Es war ein überwältigendes Geschenk, durch das ich dich besser kennenlernte. Mit Ernestos Einverständnis konnte ich Sätze aus deinen Briefen an ihn wörtlich übernehmen.
Während ich das Buch überarbeitete, war Celia allein für das Büro verantwortlich, in dem sie mit halbaufgeknöpfter Bluse saß, stets bereit, Nicole die Brust zu geben. Ich weiß nicht, wie sie es schaffte, zu arbeiten, sie hatte drei Kinder zu versorgen, war geschwächt und bedrückt von einem tiefen Kummer. In Venezuela war ihre Großmutter gestorben, und sie hatte nicht hinfahren können, um sich zu verabschieden, weil ihr Visum ihr nicht erlaubte, das Land zu verlassen und erneut einzureisen. Diese Großmutter, die zu jedem außer zu ihr ruppig gewesen war, hatte ihr in den ersten Jahren die Eltern ersetzt, weil die beiden, als Celia erst wenige Monate alt gewesen war, für drei Jahre in die USA gegangen waren, um in Geologie zu promovieren. Als sie zurückkehrten, erinnerte sich Celia kaum an diese Menschen, die sie plötzlich »Mama« und »Papa« nennen sollte;der ruhende Pol ihrer Kinderjahre war ihre Großmutter, in ihrem Bett hatte sie immer geschlafen, ihr hatte sie ihre Geheimnisse anvertraut, nur bei ihr hatte sie sich geborgen gefühlt. Später kamen ein Bruder und eine Schwester zur Welt. Celia war weiterhin viel bei der Großmutter, die in einem Anbau neben dem Haus der Eltern wohnte. Ihre Kindheit in einer streng katholischen Familie und Schule kann nicht einfach gewesen sein, ist sie doch von Natur aus trotzig und widerspenstig, aber ihre Unterwerfung ging so weit, daß sie als Jugendliche in ein Wohnheim des Opus Dei zog, in dem Selbstgeißelung und metalldornenbesetzte Bußgürtel zum Strafenkatalog gehörten. Celia versichert, davon sei sie verschont geblieben, andere Maßnahmen, um das Fleisch zu bändigen, habe sie aber über sich ergehen lassen: den bedingungslosen Gehorsam, das Vermeiden von Kontakt zum anderen Geschlecht, das Fasten, das Schlafen auf harten Brettern, stundenlanges Knien und andere Arten von Kasteiung, denen Frauen häufiger und strenger unterworfen waren als Männer, verkörperten sie doch seit Evas Zeiten Sünde und Versuchung.
Unter den Tausenden von jungen Männern, die an der Universität zu haben gewesen wären, verliebte sich Celia ausgerechnet in Nico, das genaue Gegenteil dessen, was sich ihre Eltern als
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