Das Siegel der Tage
gehört und die rauhe Oberfläche der Kohle unter ihren Füßen wahrgenommen.
Während der langen Nacht bei Tabra, als die Bäume wisperten und der Uhu rief, dachte ich daran, daß die Schwestern vom Durcheinander mir vielleicht würden helfen können. Wir trafen uns zum Frühstück in einem Restaurant voller Wochenendsportler, Jogger in Laufschuhen, Radfahrer in Marsmenschverkleidung. Wir setzten uns an einen runden Tisch, um auch nach außen hin einen Kreis zu bilden. Wir waren sechs Hexen in den Fünfzigern: zwei Christinnen, eine authentische Buddhistin, zwei Jüdinnen, die wahlweise halbe Buddhistinnen geworden waren, und ich, nach wie vor unentschieden, vereint in derselben Weltenschauung, die sich in zwei Sätzen wiedergeben läßt: »Niemals etwas tun, das Schaden anrichtet, und wann immer esmöglich ist, Gutes bewirken.« Während ich meinen Kaffee trank, erzählte ich, was in meiner Familie vorging, und schloß mit Tabras Worten, die in mir nachhallten: »Sabrina braucht zwei Mütter.« »Zwei Mütter?« hakte Pauline nach, eine der beiden halben Jüdinnen-Buddhistinnen und Anwältin von Beruf. »Ich kenne zwei Mütter!« Sie dachte an Fu und Grace, zwei Frauen, die seit acht Jahren ein Paar waren. Pauline stand auf und ging zum Telefon; damals gab es noch keine Handys. Am anderen Ende der Leitung hörte Grace sich an, was Pauline über Sabrina sagte. »Ich rede mit Fu und rufe in zehn Minuten zurück«, beendete sie das Gespräch. ›Zehn Minuten …‹, dachte ich. ›Man muß schon eine Schraube locker haben oder ein Herz so weit wie ein Ozean, um so etwas in zehn Minuten zu entscheiden‹, aber noch ehe die Zeit um war, klingelte das Telefon im Restaurant, und Fu teilte uns mit, sie wollten das Mädchen kennenlernen.
Auf einem langen Weg, der sich am Hügelkamm entlang Richtung Küste schlängelte, fuhr ich bis zu einem malerischen Anwesen, um die beiden abzuholen. Verborgen zwischen Pinien und Eukalyptusbäumen standen mehrere Holzgebäude in japanischem Stil: das Zentrum für Zen-Buddhismus. Wie sich herausstellte, war Fu eine großgewachsene Frau mit einem eindrucksvollen, markanten Gesicht, dem eine leicht angehobene Augenbraue einen fragenden Ausdruck verlieh. Sie trug dunkle, unförmige Gewänder und das Haar geschoren wie ein Rekrut. Sie war buddhistische Nonne und leitete das Zentrum. Zusammen mit Grace, die Ärztin war, wie ein Lausbub aussah und alle Herzen im Sturm nahm, wohnte sie in einem puppenhaft kleinen Häuschen auf dem Grundstück. Im Auto erzählte ich den beiden von Jennifers Leidensweg, vom Schaden, den das Kind genommen hatte, und von der düsteren Prognose der Fachärzte. Es schien sie nicht zu beeindrucken. Wir holten Jennifers Mutter ab, Willies erste Frau, die Fuund Grace bereits vom buddhistischen Zentrum her kannte, und fuhren zu viert in die Klinik.
Im Saal der Neugeborenen fanden wir Odilia, die Krankenschwester mit den tausend Zöpfchen, mit Sabrina im Arm. Bei einem früheren Besuch hatte sie mir angedeutet, daß sie das Mädchen gern adoptieren würde. Grace streckte die Arme aus, und sie legte ihr das Kind hinein, das in diesen Tagen noch an Gewicht verloren zu haben schien und stärker denn je zitterte, aber wach war. Die großen Mandelaugen sahen Grace lange an und nahmen dann Fu ins Visier. Ich weiß nicht, was Sabrina den beiden mit diesem ersten Blick sagen wollte, aber er war entscheidend. Ohne sich miteinander abzusprechen, wie aus einem Munde, erklärten die beiden Frauen, Sabrina sei die Tochter, die sie sich ein Leben lang gewünscht hatten.
Ich gehöre dem Kreis der Schwestern vom immerwährenden Durcheinander nun schon seit Jahren an und habe in dieser Zeit manches von den Frauen bewirkte Wunder gesehen, aber keins, das in seiner Tragweite mit dem Sabrinas vergleichbar wäre. Diese Frauen fanden nicht nur zwei Mütter, nein, sie entwirrten auch den bürokratischen Knoten, damit Fu und Grace die Kleine bei sich aufnehmen konnten. Der Richter hatte die Dokumente zur Heimunterbringung damals bereits unterschrieben, und für Rebecca, die Sozialfürsorgerin, war die Sache damit erledigt. Als wir sie aufsuchten, um ihr von der anderen Lösung zu berichten, teilte sie uns mit, Fu und Grace seien nicht autorisiert, sie müßten Unterricht nehmen und ein Training durchlaufen, um als Pflegemütter in Frage zu kommen, sie seien kein herkömmliches Paar und lebten außerdem in einem anderen County, man könne den »Fall« nicht dorthin abgeben. Auch habe Jennifer
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