Das Siegel der Tage
weiten Blick über die Bucht von San Francisco, dritter Stock ohne Aufzug, aber beide waren kräftig und würden mit den Siebensachen des Kleinen, den Tüten vom Markt und mit dem Müll die Treppe im Flug nehmen. Ich war aufgeregt wie eine Braut vor der Hochzeit und entschlossen, meine neue Rolle als Großmutter in vollen Zügen auszukosten. Mehr als einmal hockte ich mich in dem Zimmer, das für Alejandro vorgesehen war, auf den Boden, nachdem ich die Mobiles an der Decke angeschubst und an den Schnüren der Spieluhren gezogen hatte, und sang leise die Wiegenlieder aus der Zeit, als du und dein Bruder klein wart. Mir schien es ewig zu dauern, aber jedes Warten hat einmal ein Ende, und schließlich waren sie da.
Meine Freundschaft mit Celia nahm einen holprigen Anfang, denn Schwiegermutter und -tochter kamen aus entgegengesetzten geistigen Welten, aber sollten wir versucht gewesen sein, uns in die Unterschiede zu verbeißen, so kümmerte sich das Leben mit ein paar Backpfeifendarum, uns die Angriffslust auszutreiben. Bald hatten wir jeden aufkommenden Mißklang vergessen und waren ganz von dem Kind in Anspruch genommen und später von zwei weiteren, von der neuen Sprache und davon, uns in unserem Leben als Einwanderer in den USA zurechtzufinden. Damals ahnten wir nichts davon, aber ein Jahr später sollte uns die schwerste Prüfung auferlegt werden: dich zu pflegen, Paula. Uns blieb keine Zeit für Kindereien. Meine Schwiegertochter befreite sich sehr rasch von den brüchigen Fäden, die sie an einen religiösen Fanatismus gebunden hatten, und begann auch sonst an dem zu zweifeln, was man ihr von klein auf gepredigt hatte. Sobald sie begriff, daß sie in den Vereinigten Staaten nicht als Weiße galt, war sie vom Rassismus kuriert, und ihre Freundschaft mit Tabra räumte mit ihren Vorurteilen gegenüber Künstlern und Anhängern linker Ideen auf. Über Homosexuelle allerdings wollte sie nach wie vor nicht reden. Damals kannte sie Sabrinas Mütter noch nicht.
Nico und Celia meldeten sich zu einem Englisch-Intensivkurs an, und ich hatte das Glück, mich um meinen Enkel kümmern zu müssen. Während ich schrieb, krabbelte Alejandro auf dem Fußboden herum, gefangen hinter einem Gitter für Zwingerhunde, mit dem wir die Tür gesichert hatten. Wenn er müde wurde, steckte er sich den Schnuller in den Mund, knäuelte sein Kissen zurecht und legte sich mir zum Schlafen vor die Füße. War es Zeit fürs Mittagessen, zupfte er an meinem Rock und holte mich so aus diesem Trancezustand, in den mich das Schreiben für gewöhnlich versetzt; ich reichte ihm zerstreut das Fläschchen, und er trank es still aus. Einmal zog er das Computerkabel aus der Steckdose, und ich verlor achtundvierzig Seiten des Romans, an dem ich gerade saß, aber anstatt ihn zu erwürgen, wie ich es mit jedem anderen Sterblichen getan hätte, bedeckte ich ihn mit Küssen. Die Seiten waren schlecht gewesen.
Mein Glück war nahezu vollkommen, nur du fehltest mir noch, lebtest 1991 frischverheiratet mit Ernesto in Spanien, aber auch ihr wart schon dabei, Pläne zu spinnen, wolltet nach Kalifornien umsiedeln, wo wir dann alle zusammensein würden. Am 6. Dezember desselben Jahres wurdest du mit einer schlecht auskurierten Erkältung und Magenschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Was dann geschah, davon weißt du nichts mehr, Tochter. Wenige Stunden später lagst du auf der Intensivstation, im Koma, und fünf endlose Monate mußten vergehen, bis man mir übergab, was von dir übrig war, ein regloser Körper mit ernsten Hirnschäden. Dein Atmen war das einzige Zeichen dafür, daß du lebtest. Du konntest dich nicht bewegen, deine Augen waren zwei schwarze Brunnen, die das Licht schluckten, und in den kommenden Monaten verändertest du dich so sehr, daß man dich kaum wiedererkannte. Zusammen mit Ernesto, der sich weigerte anzuerkennen, daß er im Grunde bereits Witwer war, brachten wir dich zu mir nach Kalifornien, auf einer schrecklichen Reise über den Atlantik und quer über Nordamerika. Danach mußte er dich bei mir lassen und wieder arbeiten. Nie hätte ich mir ausgemalt, daß sich mein Traum, dich in meiner Nähe zu haben, auf so tragische Weise erfüllen würde. Celia war damals hochschwanger mit Andrea. Ich erinnere mich noch, wie sie reagierte, als man dich auf einer Bahre aus dem Krankenwagen lud: Sie klammerte sich an Alejandro, wich mit weit aufgerissenen Augen zitternd zurück, während Nico, bleich, einen Schritt auf dich zutrat, sich zu dir
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