Das Siegel der Tage
von Jennifers gespenstischem Dasein, von Sabrinas Fragilität, von tausend Schwierigkeiten mehr und von meinem Wunsch, alles zum Teufel zu schicken und zu verschwinden. Der Mann hörte uns zu, ohne uns zu unterbrechen, und als nur noch wenige Minuten bis zum Ende der Sitzung fehlten, hob er die finster zusammengezogenen Brauen und sah uns mit aufrichtigem Mitleid an. »Wieviel Traurigkeit in Ihrem Leben ist!« sagte er leise. Traurigkeit? Der Gedanke war uns beiden neu. Auf einen Schlag verpuffte unser Zorn, und bis auf die Knochen spürten wir eine Trauer, weit wie der Pazifische Ozean, die wir uns aus purem Stolz nicht hatten eingestehen wollen. Willie nahm meine Hand, zog mich auf sein Kissen, und wir umarmten einander. Zum erstenmal konnten wir zugeben, daß wir im Herzen schwer verwundet waren. Damit begann unsere Versöhnung.
»Ich würde Ihnen raten, das Wort Scheidung eine Woche lang nicht in den Mund zu nehmen. Schaffen Sie das?« fragte der Therapeut.
»Ja«, sagten wir wie aus einem Munde.
»Und ginge es auch für zwei Wochen?«
»Für drei, wenn Sie wollen«, sagte ich.
Das war die Abmachung. Drei Wochen konzentrierten wir uns darauf, die Erfordernisse des Alltags zu bewältigen, und sprachen das Tabuwort nicht aus. Wir hatten es nicht leicht miteinander, aber die Frist verstrich, und es verstrich ein Monat, dann ein zweiter, und ehrlich gesagt, haben wir nie wieder über Scheidung gesprochen. Wir nahmen unseren nächtlichen Tanz wieder auf, der uns von Beginn an selbstverständlich gewesen war: so eng umschlungen zu schlafen, daß, wenn der eine sich umdreht, der andere ihm folgt, und wenn einer sich losmacht, der andere wach wird. Von einer Tasse grünem Tee zur nächsten geleitete uns der kahlgeschorene Psychologe an der Hand über die Stolpersteine dieser Jahre. Er riet mir, »in Deckung zu bleiben« und mich nicht in die Angelegenheiten meiner Stiefkinder einzumischen, die der eigentliche Anlaß fast all unserer Streitereien waren. Willie schenkt seinem Sohn, der gerade von der Schule geflogen ist und in einer Wolke von LSD- und Marihuanagespinsten schwebt, ein neues Auto? Nicht mein Problem. Binnen einer Woche hat er es an einem Baum zu Schrott gefahren? Ich bleibe in Deckung. Willie kauft ihm ein zweites Auto, das er ebenfalls kaputtfährt? Ich beiße mir auf die Zunge. Zur Belohnung schenkt ihm der Vater einen Van und erklärt mir, der Wagen sei sicherer und stabiler. »Klar. Wenn er damit jemanden überfährt, ist der wenigstens nicht nur verletzt, sondern gleich mausetot«, entgegne ich frostig. Ich verschwinde im Badezimmer, stelle mich unter die kalte Dusche und bete meine vollständige Litanei an Beschimpfungen herunter, und danach gehe ich für ein paar Stunden in Tabras Werkstatt Halsketten basteln.
Die Therapie hat mir sehr geholfen. Ihr und dem Schreiben ist es zu verdanken, daß ich etliche Prüfungen, wenngleich nicht immer mit Bravour, überstand und meine Liebe zu Willie gerettet wurde. Das Familienmelodram geht weiter, zum Glück, denn worüber sollte ich andernfalls schreiben?
Ein Mädchen mit drei Müttern
Jennifer hatte Erlaubnis, Sabrina alle zwei Wochen unter Aufsicht zu sehen, und von Mal zu Mal wurde mir ihr Verfall deutlicher. Willies Tochter sehe immer schlechter aus, schrieb ich meiner Mutter und meiner Freundin Pía nach Chile. Die beiden spendeten ans Waisenhaus von Pater Hurtado, dem einzigen chilenischen Heiligen, den selbst die Kommunisten verehren, weil er große Wunder zu wirken vermag, und sie beteten dafür, daß Jennifer den eingeschlagenen Weg verließe und ihr Leben rettete. Tatsächlich konnte allein ein göttliches Eingreifen ihr noch helfen. Ich sollte hier vielleicht kurz innehalten, um dir von Pía zu berichten, die wie eine chilenische Schwester für mich ist, immer felsenfest zu mir stand, selbst als das Exil uns voneinander trennte. Sie kommt ja aus einer erzkatholischen und konservativen Familie, in der man den Putsch von 1973 mit Sekt begoß, aber ich weiß von wenigstens zwei Opfern der Diktatur, die sie bei sich zu Hause versteckte. Wir rühren so gut wie nie an politische Themen. Als ich mit meiner kleinen Familie nach Venezuela gegangen war, schrieben wir uns Briefe, und heute besuchen wir einander in Chile und in Kalifornien, wo sie häufig ihren Urlaub verbringt; so haben wir unsere Freundschaft erhalten, die schon so rein ist wie ein Diamant. Wir lieben einander bedingungslos, und wenn wir zusammen sind, malen wir vierhändig Bilder und
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