Das Siegel der Tage
hinunter beugte, um dich zu küssen, und mit seinen Tränen dein Gesicht netzte. Für dich endete diese Welt am 6. Dezember 1992, genau ein Jahr, nachdem du in Madrid ins Krankenhaus gekommen warst. Wenige Tage später, als wir deine Asche dort zwischen den Mammutbäumen in den Bachlauf streuten, sagten mir Celia und Nico, sie dächten daran, noch ein drittes Kind zu bekommen, und zehn Monate später wurde Nicole geboren.
Grüner Tee gegen die Traurigkeit
Willie wurde sich verzweifelt bewußt, daß Jennifer im Begriff stand, sich nach und nach das Leben zu nehmen. Eine Astrologin hatte ihm gesagt, seine Tochter befinde sich »im Haus des Todes«. Fu sagte, manche Seelen versuchten unbewußt die göttliche Entrückung auf dem schnellen Weg der Drogen zu erlangen; vielleicht verspüre Jennifer die Notwendigkeit, der Roheit dieser Welt zu entfliehen. Willie glaubt, seinen Nachkommen ein genetisches Übel vermacht zu haben. Sein Urgroßvater war einer von hundertsechzigtausend Elenden, die, übersät von Pusteln und Läusen, aus England in Fußeisen nach Australien verschifft wurden. Der Jüngste von ihnen, beim Klauen von Brot erwischt, war neun Jahre alt, und die Älteste war eine zweiundachtzigjährige Greisin, der man vorwarf, anderthalb Kilo Käse gestohlen zu haben. Sie erhängte sich wenige Tage nach ihrer Landung auf dem neuen Kontinent. Welcher Untat Willies Urahn bezichtigt wurde, ist nicht klar, jedenfalls rettete es ihn vor dem Galgen, daß er von Beruf Messerschleifer war. Wer in jenen Zeiten ein Handwerk gelernt hatte oder lesen konnte, dem blieb der Strick erspart, und man schickte ihn statt dessen nach Australien. Der Mann gehörte zu denen, die durchkamen, weil er zäh genug war, die Strapazen und das viele Trinken zu überstehen, eine Eigenschaft, die er fast all seinen Nachkommen vermachte. Vom Großvater weiß man wenig, aber Willies Vater starb an Leberzirrhose. Willie selbst hat Jahrzehnte seines Lebens keinen Tropfen Alkohol angerührt, weil seine Allergien davon scheußlich blühen, aber wenn er sich ein Glas genehmigte, blieb es nicht dabei. Ich habe ihn nie betrunken erlebt, weil ihm vorher die Luft wegbleibt, als hätte er einen Fellball verschluckt, und die Kopfschmerzen holen ihn von den Füßen, aber wirwissen beide, daß es ohne diese gesegneten Allergien mit ihm gekommen wäre wie mit seinem Vater. Erst heute, mit über sechzig Jahren, kann er ein Glas Weißwein trinken und es dabei bewenden lassen. Es heißt, die familiäre Veranlagung zur Sucht sei nicht zu unterschätzen, und seine Kinder – alle drei drogenabhängig – scheinen das zu bestätigen. Sie haben nicht dieselbe Mutter, aber in den Familien seiner ersten und seiner zweiten Frau gibt es ebenfalls schon bei den Großeltern Abhängigkeiten. Der einzige, der Willie nie diesen Kummer bereitete, ist Jason, den seine zweite Frau mit in die Ehe brachte und den Willie liebt wie ein eigenes Kind. »Jason ist nicht mit mir blutsverwandt und deshalb normal«, pflegt Willie in einem Tonfall zu sagen, als kommentierte er ein Naturereignis, die Wiederkehr der Gezeiten oder den Zug der Wildenten.
Als ich ihn kennenlernte, war Jason achtzehn Jahre alt, besaß viel Talent zum Schreiben, wenngleich keinerlei Disziplin, aber die würde er, davon war ich überzeugt, früher oder später lernen; dafür sorgen die Härten des Lebens. Eines Tages wollte er Schriftsteller sein, aber bis es so weit wäre, drehte er Däumchen. In der Regel schrieb er zwei, drei Zeilen und kam dann zu mir gelaufen, um mich zu fragen, ob sie das Zeug zu einer Erzählung hätten, doch weiter schaffte er es nie. Ich mußte ihn eigenhändig aus dem Haus schubsen, damit er ein College im Süden Kaliforniens besuchte, das er mit Auszeichnung abschloß, und als er danach wieder zu uns zog, brachte er seine Freundin Sally mit. Sein leiblicher Vater war ein Wüterich und, wenn er den Kopf verlor, unberechenbar. Als Jason erst wenige Wochen alt war, kam es zu einem Zwischenfall, der nie aufgeklärt werden konnte: Sein Vater behauptete, der Kleine sei von der Wickelkommode gefallen, aber seine Mutter und die Ärzte argwöhnten, daß der Vater ihn geschlagen und ihm die Schädeldecke eingedrückt hatte. Er mußte operiert werden und überlebte nur durch ein Wunder, blieb langeim Krankenhaus, und unterdessen ließen seine Eltern sich scheiden. Vom Krankenhaus kam er zunächst in staatliche Obhut; dann brachte seine Mutter ihn erst bei Onkel und Tante unter, die laut Jason echte
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