Das Siegel der Tage
kichern wie die Schulmädchen. Weißt du noch, daß sie und ich immer scherzten, wir würden eines Tages zwei lustige Witwen sein, die zusammen in einer Rumpelkammer hausen, Klatschgeschichten verbreiten und Kunsthandwerk herstellen? Nun, Paula, darüber sprechen wir nicht mehr, denn Gerardo, Pías Mann, dieser gutmütige und großherzige Mensch, ist eines Morgens ohne jede Vorwarnunggestorben, als er die Arbeit auf einer der Pferdekoppeln seiner Länderei beaufsichtigte. Er seufzte, senkte den Kopf und ging hinüber in die andere Welt, ohne noch von jemandem Abschied nehmen zu können. Pía ist bis heute nicht darüber hinweggekommen, obwohl ihr Clan um sie ist: vier Kinder, fünf Enkel und eine halbe Hundertschaft Verwandte und Freunde, mit denen sie in dauerndem Kontakt steht, wie das üblich ist in Chile. Sie widmet sich allen erdenklichen wohltätigen Projekten, außerdem ihrer Familie und in ihrer freien Zeit den Ölfarben und Pinseln. Wenn die Trauer zu übermächtig wird und sie nicht aufhören kann, um Gerardo zu weinen, schließt sie sich zum Sticken ein, schafft wahre Wunderwerke aus Stoffresten und sogar edelsteinbesetzte Reliefstickereien, die aussehen wie Heiligenbilder aus dem alten Konstantinopel. Diese Pía, die dich so sehr geliebt hat, ließ in ihrem Garten eine kleine Kapelle für dich bauen und pflanzte einen Rosenbusch daneben. Dort bei dem üppig wuchernden Busch redet sie mit Gerardo und mit dir und betet oft für Willies Kinder und seine Enkelin.
Rebecca, die Sozialfürsorgerin, erstellte den Einsatzplan für die Begegnungen von Sabrina mit ihrer Mutter. Das war nicht ganz einfach, weil auf richterliche Anordnung vermieden werden sollte, daß Jennifer und ihr Lebensgefährte den Pflegemüttern begegneten oder herausfanden, wo diese wohnten. Also trafen Fu und Grace sich mit mir auf dem Parkplatz irgendeines Supermarkts und übergaben mir das Mädchen mitsamt den Windeln, Spielsachen, Fläschchen und dem übrigen Klimbim, den Kinder so brauchen. Ich setzte Sabrina in einen der Kindersitze, die ich für meine Enkel im Auto hatte, und fuhr mit ihr zur Stadtverwaltung, wo ich mich mit Rebecca traf, die von einer stetig wechselnden, die immergleiche professionelle Unlust ausstrahlenden Polizeibeamtin begleitet wurde. Während die Frau in Uniform die Tür im Auge behielt, warteten Rebecca und ich in irgendeinem Raum, beide hingerissen von dem Mädchen,das so hübsch geworden war und sich, hellwach, nicht die kleinste Kleinigkeit entgehen ließ. Ihre Haut war karamelfarben, auf dem Kopf ringelten sich Löckchen wie von einem neugeborenen Lamm, und die großen Mandelaugen schauten staunend in die Welt. Manchmal kam Jennifer zu dem Treffen, manchmal nicht. Wenn sie auftauchte, ein einziges Nervenbündel, auf dem Sprung wie ein gehetzter Fuchs, blieb sie nie länger als fünf oder zehn Minuten. Sie hob ihre Tochter hoch, und zu spüren, wie leicht sie war, und zu hören, wie sie weinte, raubte ihr die Fassung. »Ich brauch eine Zigarette«, sagte sie; im nächsten Moment war sie draußen, und oft kam sie nicht zurück. Rebecca und die Polizistin begleiteten mich zum Wagen, und ich fuhr wieder zu dem Parkplatz, wo die beiden Mütter uns angespannt erwarteten. Für Jennifer müssen diese gehetzten Besuche eine Quälerei gewesen sein, denn sie hatte ihr Baby verloren, und auch daß sie es in guten Händen wußte, konnte kein Trost sein.
Diese strategisch geplanten Treffen währten schon etwa fünf Monate, als Jennifer erneut ins Krankenhaus eingeliefert wurde, diesmal mit einer Infektion am Herz und einer zweiten an den Beinen. Sie wirkte nicht besorgt, sagte, sie kenne das schon, es sei nichts Ernstes, aber die Ärzte nahmen es weniger gelassen. Fu und Grace beschlossen, daß sie das Versteckspiel leid waren und Jennifer ein Recht darauf hatte, zu wissen, wer sich ihrer Tochter angenommen hatte. Also setzten wir uns über den gerichtlich verfügten protokollarischen Ablauf hinweg, und ich begleitete die beiden in die Klinik. »Wenn die Sozialfürsorgerin davon erfährt, gibt’s Ärger«, meinte Willie, der wie ein Anwalt denkt und Rebecca damals noch nicht gut kannte.
Willies Tochter sah fürchterlich aus, hinter der durchscheinenden Haut ihrer Wangen konnte man die Backenzähne zählen, ihr Haar wirkte wie eine Puppenperücke, ihre Hände waren bläulich und die Fingernägel schwarz. IhreMutter war bei ihr und fassungslos, sie in diesem Zustand zu sehen. Ich glaube, sie hatte eingesehen, daß
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