Das Siegel der Tage
Jennifer nicht mehr lange leben würde, doch hoffte sie wohl, vor dem Ende wenigstens noch einmal zu ihr zu finden. Sie dachte, im Krankenhaus könnten sie reden und nach all den Jahren der gegenseitigen Verletzungen Frieden schließen, aber auch diesmal sollte ihre Tochter die Flucht ergreifen, ehe die Medikamente zu wirken vermochten. Willies erste Frau und ich waren uns durch die Schwierigkeiten nähergekommen: Sie hatte wegen ihrer beiden drogenabhängigen Kinder viel gelitten, und ich hatte dich verloren, Paula. Ihre Scheidung von Willie lag zwanzig Jahre zurück, und wie er hatte sie erneut geheiratet, ich glaube kaum, daß zwischen den beiden noch unterschwelliger Groll vorhanden gewesen war, aber falls doch, wurden sie durch Sabrinas Auftauchen in ihrem Leben davon befreit. Die Anziehung, die sie in jungen Jahren füreinander verspürt hatten, war schon bald nach der Heirat der Ernüchterung gewichen, und zehn Jahre später hatten sie einen harten Schnitt gemacht. Außer den Kindern hatten sie nichts gemeinsam. Während ihrer Ehe war er ausschließlich mit seiner Karriere beschäftigt gewesen, wollte erfolgreich sein und zu Geld kommen, und sie fühlte sich alleingelassen und fiel immer wieder in tiefe Depressionen. Außerdem erlebten sie die Turbulenzen der sechziger Jahre, als sich die Sitten in diesem Teil der Welt ziemlich lockerten: Die freie Liebe kam in Mode, den Partner zu wechseln wurde zur Freizeitbeschäftigung, auf Partys rekelten sich die Gäste nackt in der Familienwanne, alle Welt trank klebrige Longdrinks und rauchte Gras, und dazwischen tobten die Kinder herum. Diese Experimente hinterließen, wie zu erwarten, eine Spur aus zerbrochenen Partnerschaften, aber Willie versichert, das sei nicht der Grund für die Trennung gewesen. »Wir waren wie Öl und Wasser, wir kamen nicht zusammen, diese Ehe konnte nichts werden.« Zu Beginn meiner Liebe zu Willie fragteich ihn, ob unsere Beziehung »offen« sein würde – ein Euphemismus für Untreue – oder monogam. Ich mußte das klären, weil ich weder die Zeit habe noch dafür geschaffen bin, einem flatterhaften Geliebten hinterherzuspionieren. »Monogam, das andere habe ich schon ausprobiert, und es ist ein Desaster«, sagte er, ohne zu zögern. »Okay, aber wenn ich dich bei einem Seitensprung erwische, bringe ich dich um, dich, deine Kinder und den Hund. Ist das klar?« »Sonnenklar.« Ich für mein Teil habe mich penibler an die Abmachung gehalten, als man es von einer Person meines Naturells hätte erwarten können; ich gehe davon aus, daß er es ebenfalls getan hat, auch wenn ich für niemanden meine Hand ins Feuer lege.
Jennifer nahm ihre Tochter, drückte sie an ihre hagere Brust und sagte Fu und Grace wieder und wieder danke. Die beiden besitzen die Gabe, allem, was sie berühren, Witz, Gelassenheit und Schönheit zu verleihen. Gegenüber Jennifer gaben sie jede Abwehr auf – was nie zuvor jemand ihr gegenüber getan hatte – und schickten sich an, sie mit allem Mitgefühl zu akzeptieren, dessen sie fähig waren, und das war viel. So verwandelten sie dieses schäbige Drama in eine menschliche Erfahrung. Grace streichelte Jennifer, entwirrte ihr Haar, küßte sie auf die Stirn und versicherte ihr, sie könne Sabrina täglich sehen. Wenn sie wolle, werde sie Sabrina herbringen, und nach der Entlassung könne Jennifer ins Buddhistische Zentrum zu Besuch kommen. Sie erzählte ihr davon, wie gescheit und aufgeweckt die Kleine war, daß sie schon ohne Schwierigkeiten trank, und erwähnte die ernsten Gesundheitsprobleme mit keinem Wort.
»Meinst du nicht, Jennifer sollte die Wahrheit erfahren, Grace?« fragte ich sie, als wir gingen.
»Welche Wahrheit?«
»Wenn Sabrina weiterhin schwächer und schwächer wird. Ihre weißen Blutkörperchen …«
»Sie wird nicht sterben. Das schwöre ich dir«, unterbrach sie mich mit seelenruhiger Überzeugung.
Das war das letzte Mal, daß wir Jennifer sahen.
Am 25. Mai feierten wir Sabrinas ersten Geburtstag im Buddhistischen Zentrum, im Kreis von vier Dutzend barfüßigen Menschen, die in ihren schlabberigen Gewändern wie mittelalterliche Pilger wirkten, einige mit geschorenen Köpfen und mit dieser verdächtigen Friedfertigkeit, an der man den Vegetarier erkennt. Celia, Nico, die Kinder, Jason, seine Freundin Sally und die übrige Familie waren ebenfalls da. Die einzige Frau mit Make-up war ich, und der einzige Mann mit Fotoapparat Willie. In der Mitte des Saals sprangen etliche Kinder mit einem Haufen
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