Das Siegel der Tage
Luftballons um eine monumentale biodynamische Möhrentorte herum. Sabrina, als Gnom gekleidet, von Alejandro mit einer Reihe glitzernder Klebsterne auf der Stirn zur Königin von Äthiopien gekrönt und mit einem gelben Gasluftballon an einer langen Schnur um den Bauch, damit sie weithin sichtbar war und im Trubel nicht verlorenging, wurde von Arm zu Arm, von Kuß zu Kuß gereicht. Verglichen mit meiner Enkelin Nicole, die gedrungen und kompakt wie ein Koalabär aussah, wirkte Sabrina wie eine schlaffe Puppe, aber in diesem ersten Jahr hatte sie fast alle schwarzseherischen Prognosen der Ärzte Lügen gestraft: Sie konnte schon sitzen, versuchte zu krabbeln und wußte alle Bewohner des Buddhistischen Zentrums auseinanderzuhalten. Einer nach dem anderen stellten die Gäste sich vor: »Ich bin Kate, ich passe dienstags und donnerstags auf Sabrina auf«, »Ich heiße Marc und bin ihr Physiotherapeut«, »Ich bin Michael, seit dreißig Jahren Zenmönch, und Sabrina ist meine Meisterin …«
Winzige Wunder des Alltags
Am 6. Dezember 1993 jährte sich der Tag deines Todes zum ersten Mal. Ich wollte dich schön, schlicht, fröhlich in Erinnerung haben, als Braut gekleidet oder mit einem schwarzen Regenschirm in der Hand, wie du in Toledo über Pfützen sprangst; nachts jedoch, in meinen Albträumen, fielen mich die tragischsten Bilder an: dein Krankenhausbett, das Röcheln des Beatmungsgeräts, dein Rollstuhl, das Tuch, mit dem wir später das Loch des Luftröhrenschnitts abdeckten, deine verkrampften Hände. Viele Male habe ich darum gebetet, an deiner Statt sterben zu dürfen, und am Ende, als dieser Kuhhandel schon ausgeschlossen war, betete ich so oft darum, zu sterben, daß es nur gerecht gewesen wäre, wäre ich ernsthaft erkrankt; doch wie du weißt und wie Großvater sagte, nachdem er fast ein Jahrhundert gelebt hatte, ist Sterben sehr schwer. Ein Jahr später war ich dank der Zuneigung meiner Familie noch immer am Leben und dank der wunderheilenden Nadeln und chinesischen Kräuter des weisen Japaners Miki Shima, der dir und mir in den Monaten zur Seite gestanden hatte, in denen du langsam Abschied nahmst. Ich weiß nicht, welche Wirkung seine Behandlung auf dich hatte, mir aber waren seine ruhige Gegenwart und seine spirituelle Botschaft damals Woche für Woche eine Stütze. »Sag nicht, du willst sterben, das bringt mich um vor Kummer«, schrieb meine Mutter, als ich das ihr gegenüber in einem Brief andeutete. Sie war nicht mein einziger Grund, am Leben zu bleiben: Ich hatte Willie, hatte Nico, Celia und diese drei Enkelkinder, die mich am Morgen mit ihren klebrigen Händchen und ihren sabbernden Küßchen weckten, alle drei noch in Windeln, nach Babyschweiß und Schnuller duftend. Zusammen in einem Bett schauten wir abends aneinandergeklammert grausigeVideos mit Dinosauriern, die die Schauspieler verschlangen. Alejandro, damals vier, nahm meine Hand und sagte, ich solle mich nicht fürchten, das sei alles gelogen, die Monster würden die Leute später ganz wieder ausspucken, sie würden sie gar nicht zerkauen.
Am Morgen dieses Jahrestags fuhr ich mit Alejandro zu dem Wald, der jetzt für uns alle »Paulas Wald« ist. Reichlich vermessen, Tochter, denn eigentlich ist es ein staatlich geschützter Naturpark. Es regnete, war bitterkalt, wir sanken im Schlamm ein, es roch nach Nadelwald, und durch die Baumkronen fiel trübes Winterlicht. Mein Enkel lief watschelnd voraus, warf die Füße seitwärts und ruderte mit den Armen. Wir näherten uns dem winterlich aufgewühlten Bachlauf, in den wir deine Asche gestreut hatten. Alejandro erkannte die Stelle sofort wieder.
»Paula war gestern krank«, sagte er; für ihn war alles Vergangene gestern.
»Ja. Sie ist gestorben.«
»Wer hat sie umgebracht?«
»Das ist nicht wie im Fernsehen, Alejandro, manchmal werden Menschen einfach krank und sterben.«
»Wo gehen die Toten hin?«
»Das weiß ich nicht genau.«
»Sie ist da langgegangen«, und er zeigte auf den Bachlauf.
»Ihre Asche ist mit dem Wasser davongetrieben, aber ihr Geist lebt in diesem Wald. Findest du das nicht schön?«
»Nein. Es wäre besser, er würde bei uns leben«, sagte er bestimmt.
Wir standen lange da und dachten an dich, konnten dich in diesem grünen Tempel fast greifbar und nah spüren wie die kühle Luft und den Regen.
Am Nachmittag trafen wir uns mit der Familie – auch Ernesto war aus New Jersey angereist – und einigen Freunden bei uns zu Hause. Wir saßen im Wohnzimmer und
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