Das Siegel der Tage
so vielen Jahren, wegen der DNS-Proben, die es inzwischen gibt, entschlossener denn je, sie in den endlosen Unglücksarchiven der Polizei zu finden. Ich wiederum sah während der Meditation deutlich eine Szene vor Augen, in der Jennifer am Ufer eines Flusses saß, ihre Füße in die Strömung hielt und Steinchen insWasser warf. Sie trug ein Sommerkleid und sah jung und gesund aus, nichts schien ihr weh zu tun. Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach auf ihr blondes Haar und ihre schmale Gestalt. Unvermittelt rollte sie sich auf dem moosbedeckten Boden zusammen und schloß die Augen. Am Abend erzählte ich Willie, was ich gesehen hatte, und wir beschlossen beide, das für ihr wirkliches Ende zu halten und nicht, was die Seherin gesagt hatte: Sie ist sehr müde gewesen, ist eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Am nächsten Morgen standen wir früh auf und fuhren zu zweit in den Wald, schrieben Jennifers Namen auf einen Zettel, verbrannten ihn und streuten die Asche dort in den Bach, wo wir auch deine ausgestreut hatten. Ihr beide habt euch in dieser Welt nicht gekannt, Paula, aber wir stellen uns gern vor, daß eure Geister zwischen diesen Bäumen ausgelassen umherschweifen wie Schwestern.
Leben in der Familie
Im Jahr 1994 wurde in der Presse viel über Ruanda berichtet. Die Meldungen über den Völkermord waren unvorstellbar grauenvoll, sprachen von totgeschlagenen Kindern, von Schwangeren, denen die Bäuche aufgeschlitzt und die Föten herausgeschnitten worden waren, von ganzen Familien, die man hingemetzelt hatte, von ungezählten hungernden Waisen, die nicht wußten, wohin, von Dörfern, die mit all ihren Bewohnern niedergebrannt worden waren.
»Was kümmert es die Welt, was in Afrika passiert? Sind ja bloß ein paar schwarze Hungerleider«, empörte sich Celia mit dieser hitzigen Leidenschaft, die sie allem entgegenbrachte.
»Es ist schrecklich, Celia, aber dich bedrückt doch noch etwas anderes. Warum sagst du mir nicht, was eigentlich los ist …«, versuchte ich etwas aus ihr herauszubringen.
»Stell dir vor, meine Kinder würden mit Macheten in Stücke gehauen!« Und sie fing an zu weinen.
Etwas lastete schwer auf der Seele meiner Schwiegertochter. Sie gönnte sich keinen Augenblick Ruhe, hetzte tausend Verpflichtungen nach, ich glaube, sie weinte heimlich, und obwohl sie täglich dünner und ausgemergelter aussah, trug sie weiter eine burschikose Fröhlichkeit zur Schau. Sie hatte eine wahre Besessenheit für schlimme Pressemeldungen entwickelt und unterhielt sich mit Jason darüber, der als einziger der Familie täglich mehrere Zeitungen las und die Nachrichten mit journalistischem Spürsinn zu analysieren verstand. Er war der erste Mensch, den ich über den Zusammenhang von Religion und Terror reden hörte, lange bevor Fundamentalismus und Terrorismus praktisch zu Synonymen wurden. Er führte die Gewalt in Bosnien, im Nahen Osten und in Afrika, die Exzesse der Talibanin Afghanistan und andere, augenscheinlich nicht damit in Verbindung stehende Ereignisse auf einen Haß zurück, der sowohl rassistisch als auch religiös motiviert war.
Jason und Sally sprachen davon, auszuziehen, sobald sie eine Wohnung gefunden hätten, die für ihren schmalen Geldbeutel erschwinglich wäre, aber noch war ihre Suche erfolglos geblieben. Wir boten unsere Unterstützung an, allerdings nicht sehr nachdrücklich, weil es nicht aussehen sollte, als wollten wir sie rauswerfen. Wir hatten sie gern bei uns, sie waren unterhaltsam und sorgten für einen liebevollen Umgangston. Es war rührend, Jason zum erstenmal verliebt zu sehen und ihm zuzuhören, wenn er vom Heiraten sprach, auch wenn Willie überzeugt war, daß er und Sally kein gutes Paar abgaben. Ich weiß nicht, wie er darauf kam, die beiden schienen sich hervorragend zu verstehen.
Großmutter Hilda verbrachte viel Zeit in Kalifornien, und unter ihrem Einfluß verwandelte sich unser Haus in eine Spielhölle. Selbst meine Enkelkinder, diese Unschuldslämmer, die noch am Schnuller nuckelten, lernten, beim Kartenspielen zu schummeln. Sie brachte ihnen das Spielen so gründlich bei, daß Alejandro sich spätestens mit zehn Jahren seinen Lebensunterhalt mit einem Stapel Spielkarten hätte verdienen können. Einmal, er war noch ein Hänfling mit Nickelbrille und Hasenzähnen, mischte er sich unter einige zwielichtige Gestalten, die mit ihren Angeberkarren und Motorrädern am Strand kampierten. Die ärmellosen T-Shirts, die Tätowierungen, die Springerstiefel und
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