Das Siegel der Tage
und breit: Sie war eine pummelige Person in Tennisschuhen und Küchenschürze, die uns eine Weile warten ließ, bis sie ihren Hund fertig gebadet hatte. Wir setzten uns in der Küche, die eng war, sauber und aufgeräumt, auf zwei gelbe Plastikstühle. Nachdem sie das Tier trockengerieben hatte, bot sie uns Kaffee an und nahm uns gegenüber auf einem Hocker Platz. Wir tranken einen Moment schweigend aus den Henkelbechern, dann erklärte Willie den Grund für unseren Besuch und zeigte ihr eine Reihe Fotos von seiner Tochter, einige, auf denen Jennifer noch mehr oder weniger gesund aussah, und die letzten, die in der Klinik aufgenommen worden waren, als sie bereits sehr krank war, mit Sabrina im Arm. Die Seherin betrachtete die Bilder eines nach dem anderen, schob sie dann auf den Tisch, legte ihreHände darüber und schloß für lange Minuten die Augen. »Ein paar Männer in einem Auto haben sie mitgenommen«, sagte sie schließlich. »Sie haben sie umgebracht. Ihre Leiche haben sie in einen Wald geworfen, in der Nähe des Russian River. Ich sehe Wasser und einen Turm aus Holz, wahrscheinlich ein Wachturm der Forstverwaltung.«
Willie, bleich geworden, zeigte keine Regung. Ich legte das Entgelt für ihre Dienste auf den Tisch, dreimal so viel wie für einen Arztbesuch, nahm meinen Mann am Arm und zog ihn hinter mir her zum Auto. Ich kramte den Schlüssel aus seiner Jackentasche, schob Willie auf den Beifahrersitz und fuhr mit zitternden Händen und vernebeltem Blick über die Brücke zurück nach Hause. »Du solltest das alles nicht glauben, Willie, das ist nicht wissenschaftlich, die blanke Scharlatanerie«, redete ich auf ihn ein. »Ich weiß schon«, sagte er, aber es war nicht wiedergutzumachen. Trotzdem vergoß er keine Träne, bis wir, viel später, einmal zusammen im Kino waren, um Dead Man Walking zu sehen, einen Film über die Todesstrafe, in dem in einer Szene in einem Wald ein Mädchen ermordet wird, fast so, wie die Seherin es beschrieben hatte. Durch die Stille und Dunkelheit gellte ein herzzerreißender Schrei, wie die Klage eines verwundeten Tieres. Er kam von Willie, der sich auf seinem Sitz krümmte, den Kopf gegen die Knie gepreßt. Wir tasteten uns aus dem dunklen Saal, und auf dem Parkplatz, im Auto, weinte er lange um seine verschwundene Tochter.
Im Jahr darauf luden Fu und Grace im Buddhistischen Zentrum zu einer Gedenkfeier für Jennifer ein, um ihrem tragischen Leben Würde zu geben und seinem Ende, das nicht zu klären war und die Familie auf ewig im ungewissen lassen würde, einen Abschluß. Unsere kleine Sippe, inklusive Tabra, Jason und Sally, Jennifers Mutter und einiger ihrer Freundinnen, versammelte sich im selben Saal, in dem wir Sabrinas ersten Geburtstag gefeiert hatten, vor einem Altar mit Fotos von Jennifer aus ihren besten Zeiten, Blumen,Räucherstäbchen und Kerzen. In unsere Mitte wurde ein Paar Schuhe gestellt, um den neuen Weg zu symbolisieren, den Jennifer eingeschlagen hatte. Jason und Willie waren gerührt von der gutgemeinten Geste, mußten aber unwillkürlich grinsen, weil Jennifer diese Schuhe nie und nimmer angezogen hätte; ein Paar lila Latschen wären eher nach ihrem Geschmack gewesen. Die beiden kannten sie gut und malten sich aus, wie Jennifer, sollte sie von oben auf unsere traurige Versammlung herabsehen, sich vor Lachen ausschütten würde, weil sie alles, was nach New Age roch, albern fand und außerdem nicht zu denen gehörte, die sich beklagen; Selbstmitleid war ihr gänzlich fremd, sie war wagemutig und tapfer. Ohne die Süchte, die sie im Elend gefangenhielten, hätte sie ein Leben voller Abenteuer führen können, denn sie war stark wie ihr Vater. Von Willies drei Kindern hatte nur sie sein Löwenherz geerbt, und das hatte sie an ihre Tochter weitergegeben. Sabrina mag fallen, doch steht sie wie Willie immer wieder auf. Die Kleine, die ihre Mutter kaum gekannt hat, ihr Bild jedoch bereits vor der Geburt in sich trug, nahm auf Grace’ Arm an der Feier teil. Am Ende gab Fu Jennifer einen buddhistischen Namen: U Ka Dai Shin, »Flügel aus Feuer, großes Herz«. Der Name paßte zu ihr.
Als wir während der Zeremonie eine Weile meditierten, glaubte Jason, die Stimme seiner Schwester zu hören, die ihm ins Ohr wisperte: »Was zur Hölle macht ihr da? Ihr habt doch keine Ahnung, was mit mir passiert ist! Ich könnte noch leben, oder? Dumm nur, daß ihr das nie wissen werdet.« Vielleicht hat Jason deshalb nie aufgehört, nach ihr zu suchen, und ist heute, nach
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