Das Siegel der Tage
Therapie und wanderte durch den lichten Wald, indem deine Asche ausgestreut ist, sondern nahm außerdem Yogaunterricht und gönnte mir häufiger eine der ruhigen Akupunktursitzungen bei Doktor Shima, der mir durch sein Wissen und durch sein bloßes Dasein guttat. Dort auf seiner Liege, mit Nadeln überall, meditierte ich und verschwand in andere Sphären. Ich suchte dich, Tochter. Ich dachte an deine Seele, die während des langen Jahres 1992 in deinem reglosen Körper gefangen gewesen war. Manchmal spürte ich, wie sich eine Klaue um meine Kehle schloß und mir die Luft abschnürte oder meine Brust eng wurde wie unter der Last eines Sandsacks, oder ich fühlte mich in einem Loch begraben, aber dann erinnerte ich mich daran, daß ich meine Atmung dorthin lenken sollte, wo der Schmerz saß, ganz ruhig, wie man es während einer Entbindung tun soll, und sofort ließ die Beklemmung nach. Dann stellte ich mir eine Treppe vor, die mich aus dem Loch und ans Tageslicht führen würde, unter den offenen Himmel. Angst ist unvermeidlich, ich muß sie hinnehmen, aber ich darf nicht zulassen, daß sie mich lähmt. Einmal habe ich gesagt – oder vielleicht habe ich es irgendwo geschrieben –, nach deinem Tod hätte ich vor nichts mehr Angst, aber das ist nicht wahr, Paula. Ich fürchte mich davor, Menschen, die ich liebe, zu verlieren oder leiden zu sehen, fürchte den Verfall des Alters, die wachsende Armut, die Gewalt und Korruption in der Welt. In diesen Jahren ohne dich habe ich mit meiner Trauer zu leben gelernt, habe sie zu meiner Verbündeten gemacht. Nach und nach werden deine Abwesenheit und andere Verluste meines Lebens zu einem sanften Sehnen. Das ist es, was ich mit meinen unbeholfenen spirituellen Übungen zu erreichen versuche: die schlechten Gefühle abzuschütteln, die mich an einem unbeschwerten Fortschreiten hindern. Ich möchte meinen Zorn in Kreativität verwandeln und meine Schuldgefühle in ein augenzwinkerndes Eingeständnis meiner Schwächen; ich möchte den Hochmut und die Eitelkeit fortwischen. Illusionenmache ich mir keine, völlige Loslösung, lauterstes Mitgefühl und die Ekstase der Erleuchteten werde ich niemals erreichen, zur Heiligen tauge ich offensichtlich nicht, aber auf den Spatz in der Hand darf ich hoffen: darauf, mich weniger angebunden zu fühlen, meine Mitmenschen mehr zu mögen, mich an einem reinen Gewissen zu freuen.
Es ist ein Jammer, daß du Miki Shima nicht hast schätzen lernen können in jenen Monaten, als er dich häufig besuchte, um dir Akupunkturnadeln zu setzen und chinesische Kräuter zu geben. Du hättest dich genauso in ihn verliebt wie meine Mutter und ich das getan haben. Er putzt sich heraus wie ein Herzog, trägt gestärkte Hemden mit goldenen Manschettenknöpfen und seidene Krawatten. Als ich ihn kennenlernte, war sein Haar schwarz, aber einige Jahre später zeigten sich die ersten grauen Strähnen, wenngleich er noch immer keine einzige Falte hat, sein Teint dank seiner Wundersalben frisch bleibt wie der eines Säuglings. Er hat mir erzählt, daß seine Eltern sechzig Jahre in offener Verachtung füreinander zusammenlebten. Zu Hause sagte der Ehemann kein Wort, während die Frau, um ihn zu ärgern, ohne Punkt und Komma redete, ihn jedoch bediente, wie das bei japanischen Ehefrauen früher üblich war: Sie ließ ihm das Bad ein, schrubbte ihm den Rücken mit einer Bürste, fütterte ihn, fächelte ihm an Sommertagen Luft zu, »damit er nie behaupten konnte, sie habe ihre Pflichten vernachlässigt«, und er wiederum bezahlte alle Rechnungen und schlief jede Nacht zu Hause, »damit sie nicht behauptete, er sei ein Rumtreiber«. Eines Tages starb die Frau, obwohl er viel älter war als sie und eigentlich längst Lungenkrebs hätte haben müssen, denn er qualmte wie eine Dampflok. Sie, die in ihrem Haß stets zäh und unermüdlich gewesen war, erlag von jetzt auf gleich einem Herzanfall. Mikis Vater hatte in seinem Leben nie Wasser für Tee heiß gemacht, geschweige denn seine Strümpfe gewaschen oder die Matte zusammengerollt, auf der er schlief. Seine Kinder glaubten, er werdebald an Entkräftung sterben, aber Miki verschrieb ihm irgendwelche Kräuter, und es dauerte nicht lang, da setzte er Speck an, straffte sich, lachte und redete zum erstenmal seit Jahren. Heute steht er bei Sonnenaufgang auf, ißt eine Kugel Klebreis mit Tofu und Mikis famosen Kräutern, meditiert, stimmt einen Lobgesang an, macht Tai-Chi-Übungen und geht mit drei Päckchen Zigaretten in der
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