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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Jason ihm einmal sein Herz ausschütten wollte: Willies liebster Rat, wenn es um die Gefühle seiner Söhne geht.
    Und ich? Ich verlegte mich aufs Kochen und Stricken. Ich stand im Morgengrauen auf, bereitete Töpfe mit Essen zu, die ich Nico vorbeibrachte oder Celia aufs Autodach stellte, damit sie wenigstens etwas Warmes im Bauch hätten. Ich strickte und strickte mit dicker Wolle ein unförmiges und riesiges Etwas, laut Willie eine Jacke, um das Haus darin einzuwickeln.
    Mitten in dieser Tragikomödie kündigten meine Eltern ihren Besuch an, und daß sie just während eines dieser aberwitzigen Gewitter landeten, von denen die kalifornischen Schönwetterperioden unterbrochen werden, war, als wollte die Natur den Gemütszustand unserer Familie illustrieren. Meine Eltern leben in einem hübschen Appartement in einer friedlichen Wohngegend von Santiago, zwischen edlen Bäumen, unter denen die Dienstmädchen in Häubchen und Schürze noch heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, mit gebrechlichen alten Damen und ondulierten Hunden spazierengehen. Die beiden werden von Berta umsorgt, dieseit dreißig Jahren für sie arbeitet und in ihrem Alltag eine viel größere Rolle spielt als die sieben Kinder ihrer zusammengesetzten Familie. Willie hat einmal vorgeschlagen, sie sollten nach Kalifornien kommen, um ihren Lebensabend in unserer Nähe zu verbringen, aber für kein Geld der Welt ließen sich in den Vereinigten Staaten die Annehmlichkeiten und die Gesellschaft erkaufen, über die sie in Chile verfügen. Ich tröste mich über unsere Trennung hinweg mit dem Gedanken an den schnauzbärtigen Zeichenlehrer meiner Mutter, an ihre Freundinnen, die jeden Montag zum Tee kommen, an ihr Mittagsschläfchen zwischen gestärkten Leinenlaken, an die von Berta zubereiteten Festessen, denen sie in ihrem Haus voller Verwandter und Freunde vorsitzt. Hierzulande sind alte Menschen sehr einsam. Meine Mutter und Onkel Ramón besuchen uns mindestens einmal im Jahr, und ich fliege zwei- oder dreimal nach Chile, außerdem hören wir täglich über Brief oder am Telefon voneinander. Es ist fast ausgeschlossen, vor diesen beiden gewieften alten Leuten etwas geheimzuhalten, aber was mit Celia war, hatte ich ihnen verschwiegen, weil ich die irrige Hoffnung nicht aufgeben wollte, alles werde sich in absehbarer Zeit wieder einrenken – vielleicht war es ja nur ein jugendlicher Spleen. In der Korrespondenz mit meiner Mutter klafft während dieser Monate eine auffallende Lücke; um die Geschichte zu rekonstruieren, mußte ich alle Beteiligten einzeln und außerdem etliche Zeugen befragen. Jeder erinnert sich anders, aber wenigstens können wir frei darüber reden. Meine Eltern waren kaum in San Francisco angekommen, da merkten sie, daß etwas Gravierendes geschehen war, und es blieb nichts anderes übrig, als ihnen die Wahrheit zu sagen.
    »Celia hat sich in Sally verliebt, Jasons Verlobte«, machte ich es kurz.
    »Hoffentlich kommt das in Chile nicht raus«, hauchte meine Mutter, als sie aus ihrer Starre erwachte.
    »Es kommt raus, so etwas läßt sich nicht geheimhalten. Außerdem passiert das in den besten Familien.«
    »Schon, aber in Chile wird nicht darüber geredet.«
    »Was wollt ihr jetzt tun?« fragte Onkel Ramón.
    »Ich weiß nicht. Die komplette Familie ist in Therapie. Ein Heer von Psychologen verdient sich eine goldene Nase an uns.«
    »Wenn wir irgendwie helfen können …«, sagte meine Mutter, wie immer bedingungslos loyal, auch wenn ihre Stimme zitterte, und dann meinte sie noch, wir sollten uns nicht einmischen und unsere klugen Ratschläge für uns behalten, weil die alles nur schlimmer machen würden.
    »Geh ans Schreiben, Isabel, damit du etwas zu tun hast. Das ist die einzige Möglichkeit, wie du dich einigermaßen raushältst«, riet mir Onkel Ramón.
    »Genau dasselbe sagt Willie.«

Aber wir bleiben an Bord
    Meine Mitschwestern vom Durcheinander stellten zu den Kerzen für Sabrina und Jennifer auf ihre Hausaltäre eine weitere für den Rest meiner aus dem Tritt geratenen Familie und schlossen die Bitte, ich möge wieder zu schreiben beginnen, in ihre guten Wünsche ein, denn ich suchte schon zu lange nach Vorwänden, es nicht zu tun. Der 8. Januar nahte, und ich fühlte mich außerstande, einen Roman in Angriff zu nehmen; die nötige Disziplin konnte ich mir auferlegen, aber mir fehlte die Unbefangenheit, auch wenn mein Kopf von der Reise durch Indien mit Bildern und Farben getränkt war. Gelähmt fühlte ich mich nicht

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