Das Siegel des Olymps (Im Bann des Schicksals) (German Edition)
die Welt da draußen war so kalt und herzlos, dass sie
diese Zeit nie vergessen würde. Die Betreuer, so wie sie sich selbst immer
nannten, züchtigten die Kinder auf ihre Weise. Schläge, Beschimpfungen und
andere Erniedrigungen waren als Bestrafung für Ungehorsam an der Tagesordnung.
Aus diesem Grund, so dachte er jedenfalls, nahm sie Reißaus und verschwand.
Nur
einige Tage haben sie nach dem kleinen Mädchen gesucht, gefunden hatten sie sie
jedoch nie und so wurde sie für tot erklärt. Wie sollte sie auch in diesem
Alter, alleine, ohne Nahrung, bei kaltem Wetter, die Nächte überstehen? Allen
Annahmen zu trotz, schaffte sie es aber und kämpfte sich fort an auf der Straße
durch.
Er
hatte sie oft beobachtet, wie sie abends durch die Gassen schlich und nach
Essen suchte, hatte ihr geholfen, tagsüber nicht zu verhungern, nachts nicht zu
erfrieren, hatte mit ihr geredet und versucht, ihr eine neue Familie zu sein,
auch wenn ihm bewusst war, dass er ihr niemals den Vater ersetzen könne,
geschweige denn Einfluss auf ihre Entwicklung nehmen würde. Ihr Leben musste
sie selbst gestalten, das Beste aus dem Schicksal machen, das ihr die Moiren
zugeteilt hatten. Er konnte nur daneben stehen und versuchen, sie auf den
richtigen Weg zu schicken. Diebstahl, Betrug und Obdachlosigkeit waren
allerdings nicht das, was er sich für ihre Zukunft wünschte.
Sie
war für ihr Alter sehr reif und verantwortungsbewusst, aber ebenso blind für
Gefahren und teilweise noch recht naiv. Serena war noch jung und mit der Zeit
würde sie sicherlich lernen, sie würde es müssen.
„Wen
hast du diesmal überfallen?“, fuhr er nun neugierig fort und verschränkte seine
Arme wie ein strenger Vater vor seiner Brust, als wolle er sie einschüchtern.
Allerdings hielt sie selbst seinen strengen Blicken stand und sah dann wieder
zu Lisias, der mit einigen anderen unbesorgt in der großen Pfütze umhertanzte.
So unbeschwert wie er mit den anderen spielte, so zufrieden schien er äußerlich
zu sein. Sie tat es für ihn, für sein Leben, für ein kurzandauerndes Lächeln
eines kleinen Jungen, für den sie sich verantwortlich fühlte. Auf Grund dessen
waren ihre Augen, als sie sich wieder dem alten Mann zuwandte, voller
Gleichgültigkeit, Kälte und Unnahbarkeit.
„Es
war ein Mann aus der oberen Gesellschaft“, zischte sie abwertend, während sich
ihre Arme vor ihrer Brust verschränkten und die Finger sich in den seidigen
Stoff des cremefarbenen Gewandes gruben. „Er hoffte wohl, dass man ihm unter
einer abgetragenen Kutte und dem Dreck, den er sich ins Gesicht schmierte,
nicht erkennen würde, aber ich habe ihn beobachtet. Ich habe ihn gesehen, wie
er das Mitleid einiger Bewohner auf sich zog und deren Almosen in seine Tasche
steckte. Er hat es verdient!“
Der
alte Mann schüttelte bedenklich seinen Kopf und seine Stirn legte sich in tiefe
Falten. Es war ein gefährliches Spiel. Sie beherrschte die Regeln, ihre
Strategie und konnte die gewohnten Züge ihres Gegners vorhersehen, doch deren
Taktiken würden sich, ebenso wie ihre, weiterentwickeln.
Sie
war eine, in der gesamten Stadt gesuchte, Verbrecherin, ein Ungeziefer, das
vernichtet werden musste, bevor das ansehnliche Bild der Polis darunter leiden
würde. Er kannte sie nun schon so lange und hatte mitangesehen, wie sie sich in
all der Zeit zu einer starken und selbstbewussten Frau entwickelte.
Ihr
braunes Haar leuchtete im hellen gleißenden Licht der Sonne kupferfarben und
die langen welligen Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, umspielten
ihr zierliches Gesicht, das ihm magerer vorkam als sonst, doch hinter dieser
Körperhülle sah er noch immer das liebreizende kleine Mädchen von damals, ein
Kind mit Hoffnungen, Träumen und Erwartungen an sich selbst und die Zukunft.
Er
würde niemals den Tag vergessen, an dem er sie das erste Mal sah, das kleine
hilflose Mädchen, versteckt hinter den kräftigen Beinen ihres Vaters. Sie
spielte immer unbekümmert auf den Wiesen hinter Athen, rannte durch das feuchte
Gras, das ihr bis zu der Hüfte reichte und ihrem Vater das Suchen erheblich
erschwerte, versteckte sich in den Erdgruben auf den Feldern, sodass die Bauern
sie jedes Mal mit lautem Gebrüll von dannen jagten. Ihr Lachen war Musik in den
Ohren eines stolzen Mannes, der sie stets mit einem behutsamen Auge beobachtete.
Sie war ein aufgewecktes, aber dennoch anständiges kleines Mädchen, immer
freundlich, gehorsam und verspielt.
Niemals
hätte er auch nur zu denken
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