Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
er könne sich bei uns ein Wehrgeld für den erschlagenen Bruder aussuchen? Man könnte gerade meinen, er suche etwas Bestimmtes. Glaubt er, noch mehr Leichen zu finden?«
Der Dekan hustet und trinkt hastig den Becher leer. Juliana fixiert ihn mit zusammengekniffenen Augen.
»Mutter weigert sich, über die Leiche im Verlies zu reden. Inzwischen ist sie so plötzlich wieder verschwunden, wie sie vergangene Woche aufgetaucht ist.«
Juliana zögert und holt tief Luft, bevor sie weiterspricht.
»Ein Wort, das die Mutter fallen ließ, bringt mich zu der Überzeugung, Ihr wisst, was geschah! Bitte, erzählt es mir. Ich werde es keinem Menschen weitersagen. Ihr habt gerade selbst darauf beharrt, ich wäre inzwischen erwachsen. Ist es dann nicht auch mein Recht, nicht nur die edlen Geschichten der Familie zu hören, sondern auch von den schwarzen Stunden zu erfahren? Bitte sagt mir: Wer war dieser Ritter, und was ist geschehen, dass er im Verlies unseres Bergfrieds einen solch grausamen Tod finden musste?
Widerstrebend hebt Gerold von Hauenstein den Blick. Schweigend sehen sie sich an. Die Minuten verstreichen. Dann endlich nickt er langsam. »Vielleicht hast du Recht. Nun gut, dann muss ich die Zeit und ihre schrecklichen Ereignisse noch einmal aufwecken. Höre es dir an und denke in Ruhe darüber nach, ehe du urteilst – verurteilst! Du weißt vielleicht, dass dein Vater – obwohl er ein edler und ehrenhafter Ritter ist – an zwei Schwächen leidet: Es sind sein Stolz und sein Ehrgeiz, die Familie weiterzubringen, und die Eifersucht, die sich rasch in Jähzorn wandeln können.«
Juliana nickt, und plötzlich ist sie sich nicht mehr sicher, ob sie die Worte des Dekans wirklich hören will.
21
Naxera 15
J uliana blinzelte. Was hatte André mitten in der Nacht an ihrem Lager zu suchen? Sicher wollte er sich nicht an ihren wenigen Habseligkeiten vergreifen!
»Steh auf und komm sofort hierher!«, zischte Pater Bertran von der Tür her. Seine hagere Gestalt wurde von einem Lichtstrahl eingehüllt. Der junge Ritter sprang auf und rannte auf die offene Tür zu. Er versuchte, sich an dem Augustiner vorbeizudrücken, aber dieser ergriff seinen Arm. Er zischte ihm einen Schwall von Worten ins Ohr, von denen Juliana nur »tödliche Sünde« und »Buße« verstand. Dann gelang es André sich loszureißen. Seine Schritte verhallten in dem Korridor. Pater Bertran sah ihm nach, folgte ihm jedoch nicht. Stattdessen trat er in die Kammer bis an Julianas Lager. Er beugte sich über sie und schien auf ihre Atemzüge zu lauschen. Mit spitzen Fingern ergriff er das Leinentuch und zog es bis zu ihrem Kinn.
Mit einem Seufzer ließ sich der Augustinerpater auf der Strohmatratze direkt neben ihr nieder und zog seine Schuhe aus. Ein paarmal rauschte und knisterte es noch, als er sich umdrehte, dann erklang sein gleichmäßiges Schnarchen. Juliana öffnete die Augen und sah sich in der nur trüb erleuchteten Kammer um. André war nicht zurückgekommen. So müde sie fast den ganzen Tag über gewesen war, nun war alle Schläfrigkeit verflogen. Am liebsten hätte sie die Decke abgeworfen und wäre im Zimmer auf und ab gewandert. Was sollte das bedeuten? Hatte sie sich in dem jungen Ritter getäuscht? Musste sie sich vor ihm in Acht nehmen? Wenn er es nicht auf den Inhalt
ihres Bündels abgesehen hatte, worauf dann? Hatte er Verdacht geschöpft und war gekommen, um diesen zu überprüfen? Wut und Scham glühten in ihren Wangen. Sie hätte ihn geohrfeigt, wenn er noch da gewesen wäre.
Was sollte sie nun tun? Mit ihm offen reden und ihn bitten stillzuschweigen? Ihm aus dem Weg gehen? Sich unter Pater Bertrans Schutz stellen?
Grübelnd lag sie da, während sich die Tür immer wieder öffnete und einen müden Pilger nach dem anderen einließ, bis nahezu alle Betten belegt waren und ein Chor von Grunz-und Schnarchgeräuschen von den Wänden widerhallte. Viele Stunden lag das Ritterfräulein wach. André kehrte nicht zurück.
Es herrschte ein bedrückendes Schweigen. Juliana und André vermieden es, einander anzusehen. Pater Bertran stapfte mit mürrischer Miene in seinen Sandalen voran, als wolle er heute gleich zwei Tagesetappen hinter sich bringen. Ein Felsbrocken hatte ihm den linken Knöchel blutig geschlagen, und der große Zehennagel, der sich die vergangenen Tage schwarz verfärbt hatte, begann sich zu lösen. Doch so wie er daherschritt, hatte man den Eindruck, der dürre Augustiner könnte keinen Schmerz fühlen.
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