Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
und Dienstbereitschaft. Dekan von Hauenstein, angetan mit einem prächtigen Messgewand aus Seide, greift nach dem Birett, das auf einem Samtkissen liegt. Er hält es über das Haupt des vor ihm knienden Fischers, als wäre es die Krone für einen König, und spricht die rituellen Worte, mit denen er dem neuen Mitglied der Gemeinschaft »die Wasser von St. Peter« verleiht. Gemeinsam mit den elf anderen Apostelfischern sprechen sie ein Gebet, dann wiederholt der Dekan noch einmal die wichtigsten Rechte und Pflichten, die als Zunftordnung in der Fischertruhe verwahrt werden. Die Apostelfischer sollen das ganze Jahr über einen Fischmarkt abhalten und vor allem vor den Feiertagen und zu Fastenzeiten Fisch verkaufen. Bei seiner Aufnahme muss ein neuer Fischer auch schwören, Fährdienste zu leisten, was für die Talstadt seit dem Einsturz der Brücke überlebenswichtig geworden ist. Die nächste Brücke über den Fluss ist unten bei Heilbronn!
Der Dekan stimmt mit den Stiftsherren einen lateinischen Psalm an. Juliana unterdrückt einen Seufzer. Sonst hat es ihr immer Spaß gemacht, ihren Blick durch die Kirche wandern zu lassen, deren Harmonie so seltsam gebrochen scheint. Heute sehnt sie nur das Ende der Feier herbei, um endlich mit Gerold von Hauenstein sprechen zu können. Sie muss sich ablenken, will sie den Fluss der Zeit beschleunigen!
Es ist ein Spiel, erst das eine und dann das andere Auge zuzukneifen, um den Knick zwischen Westwerk und Langschiff noch deutlicher sehen zu können. Ein zweiter Winkel tut sich zwischen dem neuen Langhaus und dem Chor mit seinem
Querschiff auf. Und das sind nicht die einzigen Kuriositäten, die das Auge des Betrachters verwirren. Nur der vordere Teil des Schiffs ist überwölbt, der Rest von einer flachen Holzdecke bedeckt. Und auch von außen ist es nicht zu übersehen, dass die großartige Planung immer mehr der plötzlichen Leere in den Geldtruhen angepasst werden musste. Nein, für das Gewölbe war wirklich kein Gold mehr aufzutreiben, von einem neuen Westportal mit mächtigen Türmen gar nicht erst zu reden. Das war den Stiftsherren schon schmerzlich bewusst, als der zwölfseitige Mittelbau der alten Basilika abgerissen wurde. Was blieb ihnen anderes übrig, als den neuen Chor, mehr schlecht als recht, mit dem alten Westwerk zu verbinden, auch wenn diese nicht auf die gleiche Mittelachse ausgerichtet waren. Juliana findet das nicht schlimm, für den Dekan jedoch ist es Tag für Tag eine Quelle des Ärgers.
»Wie kann man einen vollkommenen Gott mit einem solch unvollkommenen Gotteshaus ehren?«, pflegt er zu sagen. Doch der Propst von Duna schüttelt nur resigniert den Kopf. »Wir haben heutzutage leider keinen Richard von Deidesheim mehr, der seine Goldschatullen großzügig für St. Peter öffnet.«
Juliana schreckt aus ihren Gedanken. Vorn am Altar kommt Bewegung in die Stiftsherren. In einer feierlichen Prozession ziehen sie durch das Kirchenschiff und verschwinden dann durch das Nordportal im Kreuzgang. Werden sie sich nun auch noch im Kapitelsaal besprechen? Das Mädchen stöhnt. Wie lange kann das dauern?, fragt sie sich, während sie sich mit den anderen Besuchern durch das Westportal auf den Lindenplatz hinaustreiben lässt. Im Schatten eines Baumes bleibt das Mädchen stehen und sieht sich unentschlossen um. Der Platz ist nun voller Menschen: Bäcker, die warmes Gebäck aus ihren Bauchläden verkaufen, die Gilde der Apostelfischer mit ihren Familien, Bürger und Gesinde aus der Stadt und natürlich die Krämer, die ihre Waren lautstark anpreisen. Tilmann ist nicht zu sehen.
Um sich die Zeit zu vertreiben, kauft sich das Mädchen einen
Honigkringel und wandert kauend an der Südfassade von St. Peter entlang. Sie will die Tür des Stadthauses im Blick haben, damit sie den Dekan auf keinen Fall verpasst. Noch bevor das Ritterfräulein das Südportal erreicht, tritt Gerold von Hauenstein mit zwei weiteren Domkapitularen des Mainzer Bischofs aus der Tür. Er gestikuliert und spricht nachdrücklich auf seine Begleiter ein. Langsam nähert sich das Mädchen, bis es seine Worte verstehen kann. Aha, er ist wieder bei seinem Lieblingsthema angelangt, das – den Gesichtern nach zu urteilen – den Stiftsherren ausreichend bekannt ist.
»Ich sage Euch, die Decke wird uns über den Köpfen zusammenbrechen! Wenn nicht heute, dann an einem anderen Tag. Und selbst wenn es uns dann nicht mehr geben sollte, wollen wir, dass unsere Nachfolger auf diese Weise zu ihrem Schöpfer
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