Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
vollbracht. Die Kirche läutet zur Abendmesse, ein paar Stimmen wehen am Haus vorbei. Jeder strebt der Sicherheit seines eigenen Herdes zu, weg von der Straße, um die Nacht unter Gottes schützender Hand zu verbringen. Und sie will zu dieser Stunde das Haus verlassen, um sich den Gefahren der Nacht auszusetzen?
»Gottes Hand ist überall«, sagt sie laut, um die Zweifel niederzuringen. Aber wird er sie schützen wollen, wenn sie gegen alle Gebote des Himmels und der Menschen verstößt? Bald wird der Nachtwächter sein Lied anstimmen.
»Was ich tue, ist richtig!«, sagt sie sich und lauscht den Geräuschen der Straße. Wie spät ist es? Wann hat Tilmann Ehrenberg erreicht? Hat die Mutter sich bereits in ihre Kemenate zurückgezogen, oder hat sie bemerkt, dass die Tochter nicht zurückgekommen ist? Glaubt Gerda, was der Knappe ihr berichtet?
Wann wird ihr klar werden, dass ihr Schützling sie belogen hat? Wird die Mutter die Burgmannen auf ihre Fährte setzen? Bestimmt! Die Frage ist nur wann? Eines ist jedenfalls sicher: Die Zeit drängt. Warum sitzt sie dann hier im Dämmerlicht, die Hände müßig im Schoß? Ist sie ihrer Sache nicht sicher? Reicht ihr Mut zu nicht mehr als zu den Worten eines Schwurs, dem keine Taten folgen? Ihr Blick richtet sich auf das Pergament des Dominikaners, das vor ihr auf dem Tisch liegt. Es ist eng beschrieben mit Namen von Städten, Klöstern, Burgen und Flüssen. Bis nach Burgund hinüber scheint die Beschreibung recht genau zu sein, dann werden die Angaben vager. Seine Erinnerung an die fernen Länder ist sicher verblasst. Manche der Namen klingen so fremdartig, dass Juliana nicht weiß, wie man sie aussprechen muss.
»Da sitzt du nun und fürchtest dich vor der Fremde«, wirft sie sich vor. Ihr Flüstern verklingt in der Dunkelheit. »Die Straße, die Menschen, Hunger und Entbehrung, alles macht dir Angst und lässt dich nach deinem vertrauten Bett jammern. Ach, wie köstlich klingt plötzlich Gerdas Schnarchen in deinem Ohr! Wie sehr wirst du dich danach sehnen, wenn du erschöpft, frierend und hungrig am Wegesrand zusammensinkst, die Füße wund von der Unendlichkeit der Straße.«
All die warnenden Worte der Mutter sammeln sich in ihrem Gedächtnis und dröhnen ihr im Ohr, als würde der Erzengel ins Horn stoßen. Ein Mädchen ohne Schutz in der Fremde! Nicht eine ganze Heerschar an Engeln könnte ihre Ehre schützen. Nein, das Edelfräulein Juliana von Ehrenberg kann sich nicht auf den Weg machen. So viel steht fest.
Entschlossen springt das Mädchen auf. Es entzündet den Docht einer Öllampe und macht sich auf den Weg zur Küche. An der Stange neben dem Kamin hängen die scharfen Messer. Mit einem Seufzer des Bedauerns löst sie ihre langen, blonden Flechten, die ihr bis über die Hüften hängen, und zieht zum letzten Mal die Bürste durch die Locken.
»Es muss sein«, spornt sie sich an und greift nach dem Messer.
Da fallen sie herab, Strähne für Strähne, und ringeln sich zu ihren Füßen. Das Edelfräulein hält erst inne, als ihr Haar nicht einmal mehr die Schultern berührt. Sie sucht sich einen groben Hanfstrick und bindet den traurigen Rest im Nacken zusammen. Wie gut, dass sie sich nicht ansehen muss! So gelingt es ihr, die Tränen hinunterzuschlucken. In der Herdstatt verbrennt sie die verräterische Pracht bis zur letzten Locke.
Als Nächstes muss sie die Kleider loswerden. In der Truhe des Vaters findet sie nichts Brauchbares. Selbst mit einem Gurt um die Taille ist ihr alles viel zu weit. Ratlos hält sie einen schweren Rock in Händen. Soll sie in der Gesindekammer nachsehen? So recht schmeckt ihr der Gedanke nicht. Muss sie gar in groben Holzschuhen durch die Lande wandern? Sie sieht auf ihre Füße herab. Nun, die bestickten roten Schnabelschuhe kann sie jedenfalls nicht tragen und ihre Reitschuhe ebenfalls nicht. Ratlos steht sie in dem prächtigen Schlafgemach des Vaters und spürt, wie die Panik schon wieder nach ihr greift.
»Tilmann!«, kommt ihr der rettende Gedanke. Vielleicht hat er einige seiner Gewänder im Stadthaus zurückgelassen. Sie eilt in die winzige Dachkammer hinauf und reißt den Deckel der Truhe hoch. Zwei knielange Hemden, Beinlinge – wenn auch mit Löchern an den Zehen –, ein Reiserock und ein langer Wollumhang mit Kapuze. Sogar ein paar lederne Schuhe findet sie, die man bis über den Knöchel schnüren kann. Sie schickt dem Knappen im Stillen ein Dankgebet, während sie in seine Kleider schlüpft. Sie passen ihr, auch
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