Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
noch die Kirche besuchen«, brachte sich der Bruder Infirmarius wieder in Erinnerung. »Das kannst du gleich tun, sobald mein Gehilfe deine Wunde frisch verbunden hat … Und lass dir ein wenig Wegzehrung in der Küche mitgeben!«
Den letzten Rat würde Juliana sicher nicht vergessen! Und sie hatte auch nicht vor weiterzuwandern, ehe sie nicht eine Schale Gerstenbrei geleert hatte.
Ein wenig später trat Juliana gestärkt, mit frisch verbundenem Knie und gefülltem Beutel auf das offene Tor zu. Sie war bereit, ihren Weg fortzusetzen. Wozu sollte sie Zeit vergeuden, um in der Kirche zu beten? Sie stand schon unter dem düsteren Torgewölbe, als sie innehielt. Sie war keine richtige Pilgerin, aber konnte nicht auch sie den Beistand des Herrn im Himmel und der Heiligen Jungfrau gebrauchen? War es das nicht wert, ein paar Augenblicke zu verweilen? Zögernd schob sie das schwere Kirchenportal auf und trat ein. Warmes Licht fiel durch die mit farbigem Glas besetzten Rosetten hoch oben in den Wänden. Das Mädchen stieg die Stufen zum mittleren der drei Schiffe hinunter und ging auf den Altar zu. Obwohl sie sich bemühte, ihre Sohlen leise aufzusetzen, hallten ihre Schritte in dem Gewölbe über ihr wider. Juliana legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick die Säulen hinaufwandern, bis zur Decke hinauf.
»Hier ist man dem Schöpfer nahe«, erklang eine Stimme. Sie fuhr herum. Der Alte mit dem Stock trat aus dem Schatten einer Nische und humpelte auf sie zu. »Dass öder Stein dazu geschaffen ist, menschliche Stimmen in einen Engelschor zu verwandeln, das ist für mich ein göttliches Wunder!«
Sie musste ihn nicht fragen, wie er das meine, denn er öffnete
den Mund und begann, auf Lateinisch zu singen: »Ave Regina Coelorum, Ave Domina Angelorum …« Seine Stimme war erstaunlich klar und voller Kraft. »Komm, sing mit. Du kennst den Choral doch sicher?«
Juliana schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht singen«, log sie. Beim Sprechen fiel ihre helle Stimme nicht so auf. Man hielt sie nur für jünger, als sie war, doch für eine hohe Knabenstimme war sie eindeutig zu alt.
»Unsinn«, wehrte der Alte ab, als er sein Lied beendet hatte. »Jeder kann seine Stimme zu Gottes Lob nutzen – und zur Ehre der Heiligen Jungfrau.« Zum Glück drang er nicht weiter in sie, sondern fuhr fort: »Ihr ist diese Stiftskirche geweiht.« Er machte eine ausladende Geste. »Der große König Sancho el Fuerte ließ den Augustinerherren diese Kirche bauen. Vielleicht war das ihr Lohn dafür, dass sie schon seit Menschengedenken die Pilger, die über die Berge kamen, aufnahmen und ihnen Gutes taten.«
»Lebt der König noch?«, fragte Juliana.
Der Alte kicherte. »Du bist mir ein Spaßvogel. Aber nein! Die Kirche ist schon über einhundert Jahre alt – zumindest manche Teile. Und dennoch ist er noch hier – ganz in der Nähe«, fügte er in verschwörerischem Flüsterton hinzu. »Willst du ihn sehen?« Das Mädchen sah ihn verwirrt an.
»Seine Gebeine! Sein Grabmal – nun ja, vielleicht auch seinen Geist«, neckte der Mann, »aber ich fürchte, Letzteren kann ich dir nicht zeigen.«
Er führte sie zu einem steinernen Sarkophag.
»Der König muss diesen Ort sehr geliebt haben, dass er sich so weit von seinem Hof entfernt am Fuß der Berge begraben ließ«, sagte Juliana, als sie die riesenhafte Statue des Monarchen betrachtete, die mit seltsam zur Seite gekippten Beinen auf seinem Sarg lag.
»Geliebt?« Der Alte lachte leise und kratzte sich seinen grauen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. »Nun ja, vielleicht auch das. Ich denke, er war ein Held und wollte, dass alle
Welt ihn als solchen verehrt. Er war der Sieger in der Schlacht von Las Navas de Tolosa … Sieh, diese Ketten hat er eigenhändig vom Zelt des muselmanischen Feldherrn gerissen und sie zum Zeichen seines Triumphes mitgebracht.« Er deutete auf die rostige Trophäe, die sorgfältig an der Wand befestigt war.
»Und was für ein passenderes Grab kann es für einen Helden geben, als Seite an Seite mit Carlomagnos Gefallenen?«
»Carlomagno? Unser Kaiser Karl, den man den Großen nennt? Dann hat die Schlacht wirklich hier stattgefunden? Ist Roland hier an diesem Ort gestorben?«
Der Alte zuckte mit den Schultern. »Wer kann das nach so langer Zeit noch sagen? Es ruhen viele alte Gebeine drunten in der Grabkapelle. Warum nicht auch Rolands tapfere Streiter? Zumindest ist das ein prächtiger Ort für ein Kloster, der einen guten Namen trägt:
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