Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
sind. Wehe, wehe euch, wenn ihr einst vor Gottes Gericht steht!«, kreischte Pater Bertran. Andrés Hand fiel herab. Gebrochen stand er vor dem Mönch, Tränenspuren auf den Wangen.
Juliana starrte den Augustiner an. Sie brauchte einige Augenblicke, bis der Schrecken seines plötzlichen Auftauchens sie nicht mehr lähmte. Eine Welle heißen Zorns stieg in ihr auf und schwappte durch ihren Leib. Ehe sie darüber nachdachte, schrie sie den hageren Pater an, der wie ein Racheengel vor ihnen stand.
»Urteilt nicht über Dinge, über die Ihr nicht Bescheid wisst! Auch Selbstgerechtigkeit ist eine Sünde, die Ihr vor dem Jüngsten Gericht zu verantworten habt. Ihr glaubt, was Eure Augen sehen, lässt nur einen Schluss zu, und Ihr verurteilt sogleich, ohne die Wahrheit zu suchen. Aber ich sage Euch: Sorgt Euch um Euer eigenes Seelenheil. In diesem Moment habe ich keine Furcht, vor Gottes Angesicht zu treten, denn er und ich wissen, dass ich hier und jetzt weder in meiner Seele noch in meinen Taten gesündigt habe!«
Ihre Wangen glühten, ihre Augen blitzten. Mit in die Hüften gestemmten Händen stand sie vor dem Pater und funkelte ihn an. Die beiden Männer schwiegen verblüfft. Weder André noch der Mönch wussten eine Erwiderung. Sie starrten das Mädchen nur mit offenem Mund an. Juliana wandte sich ab und hinkte zum Lagerplatz zurück, wo Bruder Rupert mit untergeschlagenen Beinen am Feuer saß und in die Glut sah. Er sagte nichts, und das Mädchen war froh, dass sie ihm keine Ausrede auftischen musste. Sie legte sich ein Stück abseits in einer sandigen Mulde nieder und wickelte sich in ihren Umhang. Zwar schloss sie die Augen, doch ihr Gemüt war so in Aufruhr, dass an Schlaf nicht zu denken war. Sie hörte, wie Pater Bertran zum Lager zurückkehrte und kurze Zeit später auch André. Nacheinander schliefen die Männer ein. Nur das Mädchen lag noch wach und dachte über das Gehörte nach.
Welch große Last lag auf der Seele des jungen Ritters. Wie schrecklich, eine Unbedachtheit hatte Leben zerstört. Wie würde der Weltenrichter darüber denken? Würde sich die Waagschale senken und den Freund ins Höllenfeuer verdammen? Juliana dachte an die Figuren auf dem Portal der Kathedrale von Burgos, die so drastisch das Los der Sünder zeigten.
Nein, der Herr Jesus Christ war für die Sünden der Menschen gestorben und hatte das Los des Blutes auf sich genommen, um sie reinzuwaschen. André würde gerettet, wenn er Santiago erreichte. Schließlich hatte er nicht in böser Absicht gehandelt. – Und die Sünde, Gefühle wider die Natur zu hegen, hatte
er ebenfalls nicht begangen, auch wenn Pater Bertran und er selbst es dachten.
Aber wie war es mit denen, die den Dolch mit der Absicht zu töten hoben? Um etwas an sich zu bringen, das ihnen nicht zustand? Mord aus Raffsucht und Habgier? Julianas Herz krampfte sich zusammen. Sie dachte an Ritter Raymonds Worte, die sie belauscht hatte. Etwas von großem Wert war verschwunden. Sie trug es nicht in ihrem Bündel. Hatte der Vater es an sich genommen? War es so gewesen? Hatte der Tempelritter etwas besessen, das der Vater unbedingt haben wollte? Hatte er ihn deshalb in die Pfalzkapelle gelockt und ihn dort niedergestochen? Stumme Tränen rannen über ihre Wangen. Ihr geliebter Vater? Sie konnte es nicht glauben. – Sie wollte es nicht glauben.
32
Das Kind wird zum Fräulein
Burg Ehrenberg im Jahre des Herrn 1303
E s ist ein wundervolles Osterfest. Juliana dreht und wendet sich in ihrem neuen, langen Kleid, das sogar eine kurze Schleppe hat. Sie kann sich gar nicht satt sehen und lächelt ihrem Bild in Mutters Spiegel zu. Die Ärmel des Unterkleides liegen eng an, der Surkot ist weiter und kürzer geschnitten, so dass man den seidigen Stoff des Untergewandes sehen kann. Gerda hat ihr Blumen und eine silberne Kette ins Haar geflochten.
»Vater wird Augen machen«, strahlt das Mädchen. »Und Wolf erst! Er hält mich immer noch für ein ungezogenes Kind, das er an den Zöpfen ziehen kann, wann es ihm beliebt. Aber von heute an bin ich ein Edelfräulein!«
Die Mutter nickt. »Ja, das bist du. Nun, da du jeden Mond die Leinenstreifen benutzen wirst, gehörst du zu den Frauen.«
Juliana verzieht missmutig das Gesicht. »Das gefällt mir schon jetzt nicht«, beschwert sie sich. »Mein Leib verkrampft sich, als hätte ich zu viele unreife Zwetschgen gegessen. Wie lange muss ich das aushalten?«
Die Mutter verkneift sich ein Lächeln und legt den Arm um die Schulter
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