Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
Schmerz. Müsste sie, um zu sterben, nicht all diese leiblichen Gefühle zurücklassen? Langsam öffnete Juliana die Augen. Alles war noch da: der Baum, das nasse Gras, der Schlamm, die nebelige Nacht – und das Geläut, das nun wieder lauter schien.
Eine Glocke! Das waren nicht die himmlischen Heerscharen. Jemand läutete eine Glocke! Da waren Menschen und Licht und Wärme. Juliana griff nach ihrem Hut und rappelte sich auf. Sie rannte und stolperte voran, blieb stehen, um zu hören, ob das Geläut lauter wurde, und lief dann weiter.
»Bitte nicht aufhören, o Heilige Jungfrau mach, dass sie nicht aufhören zu läuten«, murmelte sie vor sich hin. In diesem Moment kümmerte es sie nicht, ob es die kleine Kirche auf dem Ibañetapass war oder eine andere, ob sie sich auf dem Weg zum Kloster Roncesuailles befand oder in die Irre gelaufen war. Wenn sie dieses Geläut erreichte, dann war sie gerettet.
Juliana ließ die letzten Bäume hinter sich zurück. Da sah sie ihn auf einem sanften Hügel vor sich: den milchigen Schein einer Laterne auf einem plumpen Turm, der den letzten Pilgern des Tages den Weg weisen sollte. Lachend und weinend zugleich stolperte sie dem Mann in die Arme, der soeben die Tür zu dem gedrungenen Kirchenschiff öffnete.
»Je suis un pèlerin!« – Ich bin Pilger, stieß sie hervor. »Enfin, j’arrive après un long voyage, je suis epuisé et j’ai faim« – Ich habe eine lange Reise hinter mir und bin erschöpft und hungrig. Juliana berührte mit ihrer Wange die raue Kutte des Laienbruders.
»Das ist mir bereits in den Sinn gekommen, mein junger Freund«, antwortete der Bruder in schwerfälligem Latein, in das sich das ein oder andere baskische Wort mischte. Er schob Juliana eine Armlänge von sich. Sein Blick wanderte an ihr herunter und kehrte zu ihrem Gesicht zurück.
»Ja, mir scheint, du hast eine warme Mahlzeit dringend nötig. Ich bin Frater Martín. Komm mit.«
Das Mädchen humpelte durch das Kirchenschiff und folgte dem Bruder dann durch eine Tür in einen kleinen Anbau. Wärme schlug ihr entgegen. In der Ecke des niedrigen Steinraumes brannte ein Feuer, dessen Rauch ungehindert durch das mit Stroh gedeckte Dach zog. Juliana blinzelte und begann zu husten. Frater Martín schob ihr einen Hocker hin und machte sich dann an dem Eisenkessel zu schaffen, der auf einem Dreibein über den Flammen stand. Er rührte den Inhalt mit einer Schöpfkelle durch, füllte eine Tonschale bis zum Rand und reichte sie dem späten Gast. Hastig löste Juliana ihren Löffel vom Gürtel und tauchte ihn in die heiße Brühe. Es waren Zwiebelstücke darin, Lauch, Kohl und Kräuter, aber auch kleine Fleischbrocken. Schweigend sah ihr der Laienbruder beim Essen zu, nur einmal ging er hinaus, um, wie er sagte, nach der Laterne zu sehen.
»Was ist mit deinem Bein?«, fragte er, als Juliana ihm die leere Schale mit Dank zurückgab.
»Ich bin gefallen«, sagte sie. »Auf das Knie, aber so schlimm ist es nicht. Meine Beine und Füße brauchen nur eine Nacht Ruhe.«
»Zeig es mir«, forderte er sie auf und schob ihren Kittel hoch. Juliana wurde rot, wich zurück und löste rasch das Band des Beinlings von ihrer Bruech. Der zerrissene Strumpf glitt hinunter. Der Laienbruder besah sich das bläulich geschwollene Knie und die längliche Wunde an der Seite, deren Ränder gelblich verklebt waren. Eine trübe Flüssigkeit sickerte daraus hervor und rann die Wade hinab. Frater Martín erhob sich, nahm einen sauberen Leinenstreifen aus einem Korb, band ihn um die Wunde und zog den Strumpf wieder hoch.
»Das solltest du nachher dem Pater Infirmarius zeigen, wenn du ins Kloster hinunterkommst.«
»Morgen«, gähnte Juliana und nestelte den Beinling wieder fest. »Jetzt muss ich erst einmal schlafen.«
»Hier kannst du nicht bleiben.« Frater Martín schüttelte den Kopf.
»Ich brauche nichts! Nur ein Dach über dem Kopf und ein wenig Wärme. Ach bitte, lasst mich hier auf dem Boden schlafen. Mein Mantel genügt mir als Decke«, rief Juliana voller Entsetzen aus.
Noch einmal schüttelte der Bruder den Kopf. »Dein Mantel ist nass, und unten im Kloster gibt es ein Spital. Dort kannst du schlafen.« Der Gedanke, noch einmal in die neblige Nacht hinauszumüssen, trieb dem Mädchen Tränen in die Augen.
Frater Martín klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. »Nun, nun, was ist denn mit dir? Du bist ja ganz durcheinander.«
»Wie soll ich den Weg finden? Man sieht nicht einmal mehr die Hand vor Augen.«
»Es ist
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