Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
mein Bruder?«
Ritter Wilhelm von Kochendorfs Blick huscht rasch zwischen den beiden Frauen hin und her, dann entscheidet er, dass es wohl besser ist, sich aus dem Staub zu machen, und eilt zur Tür. Krachend schlägt sie hinter ihm zu.
Juliana greift nach dem Arm der Kinderfrau und schüttelt ihn. »Sprich!«
Trotz der Röte, die sich auf ihrer Wange ausbreitet, lacht Birgitta verächtlich. »Die kleine Rotznase spielt mit den anderen
Kindern im Hof. Er wird schon nicht gleich verloren gehen.« Sie reißt sich los und stolziert aus der Scheune. Juliana presst sich die Handflächen gegen ihre glühenden Wangen. Ihr Atem geht rasch. Verwirrung lähmt sie. Was ist nur geschehen? Was ist aus dem wundervollen Fest geworden, in dessen Reigen sie gerade noch geschwelgt hat? Nun will sie nur noch weg, den Vater und die Mutter finden, um nach Ehrenberg zurückzukehren, und die Bilder vergessen, die wie Dämonen durch ihren Sinn zucken. Doch zuerst muss sie in den Hof eilen und nach Johannes sehen, sich vergewissern, dass Birgittas Nachlässigkeit keinen Schaden angerichtet hat – ihre Nachlässigkeit! So sehr sie sich auch auf ihre Wut konzentriert, sie kann die Stimme nicht übertönen, die ihr zuflüstert: Wenn Johannes etwas passiert ist, dann ist es deine eigene Schuld!
Aus dem Traumfest ist ein Albtraum geworden. Juliana kann den kleinen Bruder nirgends entdecken, und auch die anderen Kinder schütteln nur ratlos die Köpfe. Sie haben nicht gemerkt, dass er weggegangen ist. Nein, er fehlt wohl schon eine ganze Weile bei ihrem Spiel. Juliana beschwört die Kinder, ihn zu suchen. Sie selbst drängt sich mit gerafften Röcken zwischen den Gästen hindurch, sucht in der Halle, in den Gemächern, ja selbst in der Küche. Dann eilt sie wieder in den Hof. Die Sonne ist bereits untergegangen, und es ist düster. Die angezündeten Fackeln verwirren das Auge mehr, als dass sie helfen, die Schatten zu verdrängen. Sie beugt sich herab und sieht unter den Tischen nach, kann Johannes aber nicht entdecken.
»Hast du etwas verloren, das dir wichtig ist, meine Tochter?« Der Vater steht plötzlich vor ihr.
Juliana versucht sich an einem Lächeln, das zur Grimasse gerät. »Aber nein, lieber Vater, es ist«, sie schluchzt auf, »es ist – ich kann Johannes nicht finden«, bricht es aus ihr heraus. Tränen rinnen über ihre Wangen.
Der Vater wischt sie weg. »Nun, dann müssen wir ihn gemeinsam suchen. Er kann ja nicht weit sein. Wo hast du ihn zuletzt gesehen?«
»Hier im Hof«, sagt das Mädchen.
Der Vater dreht sich im Kreis. »Dann muss er ja noch hier sein. Du warst doch die ganze Zeit bei ihm, nicht?«
»Ja, nein, erst schon, und dann hat er mit den Kindern gespielt, und ich, also …« Juliana leckt sich nervös über die Lippen.
Die Miene des Vaters verhärtet sich. »Was war dann?«
»Birgitta war da und die anderen Kinder, und da bin ich ein wenig hinausspaziert, über die Zugbrücke, in der Sonne….«
Nun steht dem Vater der Schreck ins Gesicht geschrieben. Er deutet hinauf in den immer dunkler werdenden Abendhimmel. »In der Sonne? Wie lange hast du ihn allein gelassen?«
»Die anderen waren doch hier«, versucht das Mädchen sich zu verteidigen, bricht jedoch unter dem vernichtenden Blick des Ritters ab.
»Wir werden ihn finden! Mach dich im Palas auf die Suche und frage jeden, den du kennst. Ich werde ein paar Männer herbeirufen, die sich drüben auf der anderen Seite des Grabens verteilen, eine dritte Gruppe nimmt sich hier den Hof, die Lagerräume und den Bergfried vor. Ich werde meinen Sohn nicht verlieren!«
Die Verzweiflung in seiner Stimme lässt das Mädchen nur stumm nicken. Sie fängt an zu beten, während sie ein zweites Mal durch alle Räume des Palas hastet und nach Johannes ruft. Jeden, den sie trifft, hält sie an und beschreibt den Knaben, doch keiner hat auf die herumstreifenden Kinder geachtet. Achselzuckend gehen sie weiter. Juliana rafft die Röcke und steigt die gewundene Treppe bis zur hohen Schildmauer hinauf, die mit einem Wehrgang Palas und Bergfried verbindet. Sie beugt sich über die Mauerkrone und sieht hinab in den Hof und dann auf die andere Seite in den Gang zwischen Burg und Ringmauer. Mehr als flackernde Lichter und farbige Schatten
auf Gewändern und Umhängen kann sie jedoch nicht erkennen. Die beiden Wächter, die gelangweilt zwischen den Zinnen kauern, können ihr auch nicht weiterhelfen.
Als Juliana wieder in den großen Saal hinunterkommt, lehnt Wilhelm von
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