Das Sigma-Protokoll
paralysiert, als er nach Zürich fuhr. Zurück in die Höhle des Löwen, dachte er. Zwar war er Persona non grata in Zürich, aber immerhin hatte die Stadt fast vierhunderttausend Einwohner. Solange er sich ruhig verhielt und in keine Falle tappte, würde er schon durchkommen. Sicher war es ein Risiko, aber ihm war völlig klar, dass es einen sicheren Zufluchtsort für ihn nicht gab. Wie hatte Liesl seinen Bruder zitiert? Die entscheidende Frage lautet nicht, wo sie sind, sondern wo sie nicht sind.
Liesl! Der Geruch des Holzrauches, der sich in seinen Sachen
festgesetzt hatte, erinnerte ihn ständig an sie, an die heimelige Hütte und an die Explosion, die er immer noch nicht begreifen konnte.
Was ihm ein klein wenig Trost spendete, war die Tatsache, dass Liesl wahrscheinlich nicht hatte leiden müssen, dass sie schon tot war, als die Hütte in Flammen aufging.
Während der Fahrt hatte er über alles nachgedacht und war zu einem Ergebnis gekommen, das ihm schlüssig erschien und gleichzeitig einen Schauer über den Rücken jagte. Das Quietschen, das er mitten in der Nacht gehört und für einen Teil seines schrecklichen Traums gehalten hatte, waren die Ventile des Propangastanks gewesen, die jemand bis zum Anschlag aufgedreht hatte. Während er schon draußen auf der Lichtung war, breitete sich das geruchlose Gas in der Hütte aus, betäubte Liesl erst und tötete sie dann. Um den Mord zu vertuschen, hatte wahrscheinlich ein Zeitzünder das leicht entflammbare Gas entfacht. Die örtlichen Behörden würden die Explosion auf einen defekten Propangastank zurückführen und als Unfall abhaken.
Der Täter saß zum Zeitpunkt der Explosion schon im Wagen und entfernte sich vom Tatort.
Als Ben Sekunden nach der Explosion den Range Rover erreicht hatte, war von der Hütte schon nichts mehr übrig gewesen.
Liesl konnte nicht gelitten haben. Sie hatte betäubt oder tot im Bett gelegen, als die Hütte explodierte.
Er konnte den Gedanken kaum ertragen.
Vier Jahre hatten Liesl und Peter dort gelebt. Zwar immer mit der Furcht vor Entdeckung, aber im Wesentlichen doch ungestört. Sie hätten noch Jahre so weiterleben können.
Erst als Ben in Zürich aufgetaucht war, hatte sich alles geändert.
Er hatte die Killerbande aufgeschreckt und war letztendlich für Peters Tod verantwortlich.
Er hatte diese gesichtslosen, anonymen Killer zu Liesl geführt, der Frau, die einst Peters Leben gerettet hatte.
Bens Schmerz war unermesslich. Er war so betäubt, dass er nicht einmal mehr Schuldgefühle verspürte. Er fühlte gar nichts mehr. Der Schock hatte ihn in einen lebenden Leichnam verwandelt.
Geradeaus starrend, fuhr er in die Nacht hinein. Er funktionierte nur noch wie eine Maschine.
Als er sich der dunklen Stadt näherte, wurde seine Taubheit nach und nach von einem einzigen Gefühl verdrängt: einer stetig anwachsenden Wut. Einer Wut auf die, die unschuldige Menschen getötet hatten, weil sie durch puren Zufall über etwas gestolpert waren, das sie nicht wissen durften.
Die Killer und deren Auftraggeber waren in Bens Vorstellung körper- und gesichtslose Wesen. Er konnte sich kein Bild von ihnen machen, aber er war fest entschlossen, sie zu stellen und ihnen die Maske vom Gesicht zu reißen. Sie wollten ihn tot. Erst wollten sie ihm Angst einjagen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Doch anstatt die Flucht zu ergreifen, war er ihnen entgegengelaufen - aus einer Richtung, die sie nicht vorausgesehen hatten. Sie wollten im Schatten bleiben, doch er würde sie ins Licht zerren. Sie wollten vertuschen, doch er würde bloßstellen.
Und falls sein Vater tatsächlich einer von ihnen war, dann...
Er musste in die Vergangenheit eintauchen, musste erfahren, wer die Mörder waren, woher sie kamen und vor allem, was sie verbargen. Die natürliche Reaktion auf ihr Vorgehen war Angst. Und Ben hatte Angst. Aber seine Wut war größer.
Er wusste, dass er eine Grenze überschritten hatte. Seine Besessenheit lag jenseits aller Rationalität.
Wer waren die Angreifer?
Männer, deren Auftraggeber einer Organisation vorstanden, die mit Max Hartmans Hilfe ins Leben gerufen worden war. Verrückte? Fanatiker? Oder einfach Söldner einer Organisation, die vor Jahrzehnten von prominenten Industriellen und hochrangigen Nazis - darunter seinem Vater - gegründet worden war und nun die kriminellen Ursprünge ihres Reichtums verbergen wollte? Kaltblütige Söldner ohne Ideologie außer der des Profits, des allmächtigen Dollars, des europäischen
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