Das Sigma-Protokoll
wahrscheinlich noch wach.
Er war sein Leben lang früh aufgestanden und spät zu Bett gegangen. Aber Ben hätte auch keine Skrupel gehabt, ihn zu wecken - nicht mehr.
Nach der langen Fahrt vertrat er sich auf der Universitätsstraße die Beine. Er kontrollierte, ob sein GSM-Handy auf den in Europa gebräuchlichen Standard eingestellt war, und rief dann in Bedford an.
Die Haushälterin Mrs. Walsh hob ab.
Mrs. Walsh, die Ben immer wie die irische Variante der Mrs. Danvers aus Hitchcocks Rebecca vorgekommen war, arbeitete seit über zwanzig Jahren für die Familie. Ben hatte sich nie an ihre arrogante Zurückhaltung gewöhnen können.
»Benjamin«, sagte sie. Ihre Stimme klang merkwürdig.
»Guten Abend, Mrs. Walsh«, begann Ben mit matter Stimme. Er machte sich schon auf einen Streit mit seines Vaters Wachhund gefasst. »Kann ich bitte meinen Vater sprechen?«
»Dein Vater ist weggefahren, Benjamin.«
Ben stutzte. »Weggefahren? Wohin?«
»Das ist das Merkwürdige. Ich habe keine Ahnung.«
»Wer kann mir sagen, wo er ist?«
»Niemand. Heute Morgen kam ein Wagen und hat ihn abgeholt. Er hat nicht gesagt, wohin er fährt. Mit keinem Wort. Nur, dass es eine Zeit lang dauern würde.«
»Hat Gianni ihn abgeholt?« Gianni war der Chauffeur seines
Vaters. Ein unbekümmerter Bursche, den der alte Herr mit einer Art distanzierter Zuneigung behandelte.
»Nein. Es war kein Wagen aus der Firma. Er ist einfach abgefahren. Keine Erklärungen.«
»Ist mir ein Rätsel. So was hat er doch noch nie getan, oder?«
»Nein, noch nie. Sein Pass ist auch nicht mehr da.«
»Na ja, das ist zumindest ein Hinweis.«
»Ich habe im Büro angerufen. Seine Sekretärin weiß nichts von einem Auslandstermin. Ich hatte gehofft, dass er vielleicht dir was gesagt hat.«
»Kein Wort. Hat kurz vorher jemand mit ihm telefoniert?«
»Nein, nicht dass ich... Augenblick, ich schau mal eben in seinen Terminkalender.« Eine Minute später war sie wieder am Telefon. »Ein Mr. Godwin.«
»Godwin?«
»Ja. Professor Godwin, um genau zu sein.«
Ben war überrascht. Das musste sein ehemaliger Mentor aus Princeton sein, der Historiker John Barnes Godwin. Andererseits war es alles andere als sonderbar, dass Godwin Max Hartman anrief. Als Ben seinem Vater vor ein paar Jahren von der Arbeit des berühmten Historikers erzählt hatte, war er so beeindruckt gewesen, dass er Princeton Geld für den Bau des Center for the Study of Human Values gespendet hatte. Godwin war dann Direktor des Instituts geworden. Allerdings konnte sich Ben nicht daran erinnern, dass sein Vater je von Godwin gesprochen hätte. Warum hatten die beiden gestern Morgen miteinander telefoniert?
»Geben Sie mir doch bitte Godwins Nummer«, sagte er.
Mrs. Walsh gab sie ihm; Ben bedankte sich und schaltete das Handy aus.
Merkwürdig, dachte er. Kurz war ihm der Gedanke durch den Kopf gegangen, dass sein Vater geflohen war, weil er wusste, dass man seine Vergangenheit aufgedeckt hatte oder sie in Kürze aufdecken würde. Aber wohin sollte er fliehen?
Ben war physisch und emotional erschöpft. Er konnte nicht mehr präzise denken. Seine Schlussfolgerungen waren unlogisch. Er brauchte dringend Schlaf.
Peter wusste etwas über die Vergangenheit unseres Vaters und
über eine von ihm mitbegründete Organisation. Peter wurde getötet.
Dann habe ich eine Fotografie gefunden, auf der die Gründer dieser Organisation inklusive unseres Vaters abgebildet sind. In Liesls und Peters Hütte entdeckte ich eine Seite des Gründungsdokuments. Daraufhin haben sie versucht, mich und Liesl umzubringen und den Mord bzw. versuchten Mord zu vertuschen, indem sie die Hütte in die Luft jagten.
War es möglich, dass sie... wieder nur sie, die gesichtslosen, anonymen SIE... dass sie sich mit unserem Vater in Verbindung gesetzt und ihn darüber informiert haben, dass das Geheimnis gelüftet war- das seiner Vergangenheit oder das der Organisation oder beides?
Ja, das war durchaus möglich. Schließlich schienen sie jeden eliminieren zu wollen, der von der Organisation erfuhr.
Warum sonst hätte Max Hartman so plötzlich verschwinden sollen?
Hatte man ihn vielleicht gezwungen zu verreisen, um bestimmte Leute zu treffen?
Nur einer Sache war sich Ben ganz sicher: Das plötzliche Verschwinden seines Vaters stand in Zusammenhang mit Peters und Liesls Ermordung und mit der Entdeckung der Gründungsurkunde.
Er ging zurück zum Range Rover. Im Licht der aufgehenden Sonne fielen ihm zum ersten Mal die Kratzer
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