Das Sigma-Protokoll
an den Seiten des Wagens auf. Er stieg ein, fuhr wieder zum Zähringerplatz, stellte die Lehne etwas schräger und rief in Princeton, New Jersey, an.
»Professor Godwin?«
Anscheinend hatte er den alten Professor geweckt.
John Barnes Godwin, Historiker mit Spezialgebiet Europa im 20. Jahrhundert und einstmals Princetons beliebtester Professor, lebte schon seit Jahren im Ruhestand. Trotz seiner zweiundachtzig Jahre ging er noch jeden Tag zur Arbeit ins Büro.
Ben sah Godwin vor sich -groß, hager, weißes Haar, zerfurchtes Gesicht.
Godwin war zwar nicht der für ihn zuständige Tutor, aber dennoch so etwas wie eine Vaterfigur gewesen. Ben erinnerte sich
an einen Spätnachmittag, als er in Godwins Büro in Dickinson Hall gesessen hatte. Bernsteinfarbenes Licht fiel durch die Fenster, die Berge von alten Büchern verströmten einen moderigen Vanilleduft.
Sie hatten sich darüber unterhalten, mit welchen Mitteln Präsident Roosevelt es geschafft hatte, dass das isolationistische Amerika in den Zweiten Weltkrieg eingetreten war. Ben schrieb damals an einer Seminararbeit über Franklin D. Roosevelt, und er hatte Godwin erzählt, dass ihn Roosevelts Trickserei anwiderte.
»Mister Hartman.« So nannte Godwin Ben damals. »Wie steht’s mit deinem Latein? Honesta turpitudo est pro causa bona.«
Bens verständnislosem Blick begegnete Godwin mit einem durchtriebenen Lächeln.
Dann übersetzte er langsam. »>Für eine gute Sache wird eine Schändlichkeit zur Tugend.< Publilius Syrus. Rom. 1. Jahrhundert vor Christus. Hatte jede Menge schlauer Sprüche auf Lager.«
»Ich fürchte, da bin ich anderer Meinung«, erwiderte Ben im Brustton moralischer Entrüstung. »Klingt wie eine rationale Rechtfertigung dafür, dass man anderen Leuten das Fell über die Ohren ziehen darf. Ich hoffe, dass ich so einen Satz nie in den Mund nehmen werde.«
Godwin schaute ihn scheinbar verwirrt an. »Ich nehme an, das ist der Grund für deine Weigerung, ins väterliche Geschäft einzusteigen«, sagte er spitz. »Du möchtest am liebsten unbefleckt bleiben.«
»Ich möchte am liebsten unterrichten.«
»Was macht dich so sicher, dass du ein guter Lehrer wirst?«, fragte Godwin und nippte an seinem Portwein.
»Die Tatsache, dass es ein wunderbarer Beruf ist.«
»Bist du sicher?«
»Na ja«, sagte Ben. »Soweit man sich als Zwanzigjähriger eben sicher sein kann.«
»Also, ich habe festgestellt, dass sich die meisten Zwanzigjährigen der meisten Dinge schon ziemlich sicher sind.«
»Warum soll ich mich mit etwas abgeben, das mich nicht interessiert? Warum soll ich in der Firma meines Vaters arbeiten und
aus dem vielen Geld noch mehr Geld machen, das ich sowieso nicht brauche? Was nützt denn unser vieles Geld der Gesellschaft? Warum soll ich noch stinkreicher werden, wenn andere nicht mal genug Essen auf dem Tisch haben?«
Godwin schloss die Augen. »Es ist ein Luxus, so nonchalant mit Geld umgehen zu können. Ich habe einige extrem reiche Studenten unterrichtet - sogar ein Rockefeller war dabei. Und alle steckten im gleichen Dilemma. Wie schaffe ich es, mich und mein Leben nicht vom Geld bestimmen zu lassen? Wie schaffe ich es, mit meinem Leben etwas Sinnvolles anzufangen? Nun, dein Vater ist einer der spendabelsten Philanthropen des Landes...«
»Ja, ja. Hat nicht Reinhold Niebuhr gesagt, dass Philanthropie nur eine Form von Paternalismus ist? Die privilegierte Klasse versucht ihren Status dadurch zu zementieren, dass sie die Bedürftigen mit Almosen abfüttert.«
Godwin hob beeindruckt den Blick. Ben konnte sich gerade noch ein Lächeln verkneifen. Er hatte das gerade erst in seiner Theologieklasse gelesen. Die Zeile war ihm im Gedächtnis haften geblieben.
»Eine Frage, Ben. Ist der Berufswunsch Grundschullehrer vielleicht nur eine Art Widerstandsakt gegen deinen Vater?«
»Vielleicht, ja«, sagte Ben, der seinen Professor nicht anlügen wollte. Er hatte noch vor zu sagen, dass er - Godwin - es gewesen sei, der ihn ihm den Lehrerwunsch hatte aufkeimen lassen. Doch dann ließ er es.
Godwins Antwort überraschte ihn. »Respekt. Dafür braucht man Mumm. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass du ein hervorragender Lehrer wirst.«
»Professor Godwin, bitte entschuldigen Sie die späte Störung, hier ist Ben Hartman.«
»Ben! Das macht doch nichts. Wo bist du? Die Verbindung ist etwas...«
»In der Schweiz. Ich möchte Sie etwas fragen. Mein Vater ist verschwunden und...«
»Verschwunden? Was meinst du mit
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