Das Sigma-Protokoll
multinationalen Konzerns an.
Der schnell und leise sprechende Marquand beendete das Gespräch und legte auf.
»Sektor Wien ist beunruhigt«, sagte Marquand zu dem Mann, der neben ihm saß. Jean-Luc Passard -Franzose, dunkelhaarig, olivfarbene Haut -war gut und gerne zwanzig Jahre jünger als Marquand. »Der Amerikaner hat den Propangasunfall in St. Gallen überlebt.« Düster fügte er hinzu. »Es darf einfach keine Fehlschläge mehr geben. Nicht nach dem Debakel am Bahnhofplatz.«
»Es war nicht Ihre Entscheidung, den Amerikaner darauf anzusetzen«, sagte Passard sanft.
»Natürlich nicht. Aber ich habe mich auch nicht dagegen ausgesprochen. Die Gründe waren ja auch überzeugend. Er hatte eine gewisse Zeit in der Umgebung des Objekts gelebt und war in der Lage, sein Gesicht binnen Sekunden aus einer Menschenmenge
herauszupicken. Egal wie genau sich ein Fremder ein Foto auch einprägt, er kann nie so schnell und zuverlässig arbeiten wie jemand, der das Objekt persönlich kennt.«
»Wir haben jetzt den Besten darauf angesetzt«, sagte Passard. »Der >Architekt< wird uns das Chaos binnen kürzester Zeit vom Hals schaffen.«
»Sein Perfektionismus siegt immer. Er bleibt dran, bis die Aufgabe gelöst ist«, sagte Marquard. »Trotzdem darf man dieses Ami-Bürschchen nicht unterschätzen.«
»Ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt«, meinte Passard. »Der Kerl ist topfit, ein Fitnessfreak. Aber letztlich wird ihm das auch nichts nützen.« Grinsend fuhr er fort: »Der weiß nicht, wie es zugeht in der freien Wildbahn. Der kennt nur den Zoo.«
»Wie auch immer«, sagte Marquand. »Der Kerl hat Anfängerglück.«
»Na ja. Anfänger stimmt inzwischen nicht mehr ganz«, erwiderte Passard.
Wien
Der ältere, gut gekleidete Amerikaner, der den Flugsteig heraufkam, ging steif und langsam und zog einen Rollenkoffer hinter sich her. Er blieb stehen und suchte die Menge der Wartenden nach einem uniformierten Chauffeur ab, der ein Schild mit seinem Namen hoch hielt.
Als er ihn sah, winkte er. Der Fahrer und eine Frau in weißer Schwesterntracht kamen rasch auf ihn zu. Der Fahrer nahm ihm die Tasche ab und ging sofort Richtung Ausgang. Die Schwester fragte: »Hatten Sie einen angenehmen Flug, Sir?«
Der Mann brummte: »Ich kann Reisen und Flugzeuge nicht mehr ausstehen.«
Die Schwester begleitete den Alten langsam durch die Menschenmenge zu der schwarzen Mercedes-Limousine, die vor der Ankunftshalle wartete. Während der Chauffeur die hintere Tür aufhielt, half die Schwester dem Mann beim Einsteigen. Der Wagen war mit den üblichen Annehmlichkeiten wie Telefon, Fernseher und Bar ausgestattet. Zusätzlich befanden sich, unauffällig
in einer Ecke verstaut, einige medizinische Notfallgeräte: eine kleine Sauerstoffflasche mit Maske, ein Defibrillator und IV-Schläuche.
»Also dann«, sagte die Schwester. »Die Fahrt dauert ja nicht lange.«
Der Alte stöhnte, lehnte sich in dem weichen Ledersitz zurück und schloss die Augen.
»Wenn Sie irgendwas brauchen, sagen Sie Bescheid«, murmelte die Schwester.
19. KAPITEL
Zürich
In ihrem Hotel traf sich Anna mit einem Verbindungsbeamten aus dem Büro der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Bernard Kesting war ein kleiner kräftiger Mann mit dunklem Haar, Vollbart und Augenbrauen, die in der Mitte zusammenwuchsen. Kesting war jung, ernst und professionell, der Prototyp des Schweizer Bürokraten.
Nach ein paar Minuten gespreizten Smalltalks begleitete Kesting sie zu seinem Wagen, einem BMW 728, der in der halbkreisförmigen Auffahrt vor dem Hotel stand.
»Rossignol ist uns natürlich bestens bekannt«, sagte Kesting und hielt ihr die Tür auf. »Eine seit vielen Jahren hoch angesehene Persönlichkeit des Schweizer Bankwesens. Selbstverständlich hatten wir nie Anlass, ihn zu befragen.« Anna stieg ein, während er neben der offenen Tür stehen blieb. »Ich fürchte, dass uns der Kern Ihrer Nachforschungen nicht ganz klar ist. Herr Rossignol ist nie eines Verbrechens beschuldigt worden.«
»Verstehe.« Sie streckte die Hand aus und machte die Tür selbst zu. Der Mann machte sie nervös.
Während Kesting die Hoteleinfahrt und dann die Steinwiesstraße -eine ruhige Wohnstraße in der Nähe des Kunsthauses - hinunterfuhr, sprach er weiter. »Rossignol war bzw. ist einer der brillantesten Finanzleute des Landes.«
»Ich kann Ihnen zwar nicht den Grund unserer Ermittlungen nennen, aber ich kann Ihnen sagen, dass Rossignol nicht im Zentrum unseres Interesses steht«,
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