Das Sigma-Protokoll
Beamter der Kantonspolizei im Mutterhaus mithören.«
»Mutterhaus?«
»Das Polizeipräsidium. Wir nennen es Mutterhaus.«
Sie fuhren die Hottingerstraße bergauf. Je höher sie kamen,
desto größer und luxuriöser wurden die Häuser, desto mehr Bäume gab es. Schließlich bogen sie in die Hauserstraße und dann in die Einfahrt eines niedrigen braunen Steinhauses ein, das inmitten eines hübsch gestalteten Gartens lag. Anna fiel auf, dass nirgendwo zivile Polizeifahrzeuge zu sehen waren.
»Das ist die Adresse«, sagte Kesting.
Sie nickte. Noch ein Schweizer Bankier mit einem großen Haus in einem schönen Garten.
Sie stiegen aus und gingen zur Haustür. Kesting klingelte. »Es macht Ihnen hoffentlich nichts aus, wenn ich die Befragung durchführe?«
»Überhaupt nicht«, sagte Anna. Das gehörte zu den Gepflogenheiten der internationalen Zusammenarbeit. Beide waren damit vertraut.
Kesting wartete ein paar Minuten und klingelte ein zweites Mal. »Er ist schon seit ein paar Jahren an den Rollstuhl gefesselt. Dauert wahrscheinlich seine Zeit.«
Wieder verstrichen ein paar Minuten. »Kann mir nicht vorstellen, dass er oft außer Haus ist«, sagte Kesting schließlich und klingelte noch einmal.
Wäre zu schön gewesen, dachte Anna. Wieder ein Flop.
»Vielleicht ist er krank«, meinte Kesting. Er probierte die Klinke, aber die Tür war verschlossen. Zusammen gingen sie um das Haus herum und versuchten es an der Hintertür. Sie war offen. »Dr. Rossignol!”, rief Kesting. »Mein Name ist Kesting. Ich bin vom Büro des Staatsanwalts.« Das »Dr.« war wohl eine Höflichkeitsfloskel.
Stille.
»Dr. Rossignol?«
Kesting und Anna gingen durch den Vorraum und das Arbeitszimmer in den Flur. Das Licht brannte. Sie hörten klassische Musik.
»Dr. Rossignol?«, rief Kesting jetzt lauter. Sie erreichten das Esszimmer. Es war hell erleuchtet. Sie sahen den Kassettenrekorder und...
»O Gott!«
Vor einem Teeservice, das auf dem langen Esstisch stand, saß ein alter Mann im Rollstuhl. Das Kinn lag auf der Brust, die aufgerissenen
Augen waren starr auf den Boden gerichtet. Der Mann war tot.
Sie hatten ihn erwischt! Die Tatsache an sich war nicht überraschend. Was Anna verblüffte, war der Zeitpunkt. Es musste ganz kurz vor ihrer Ankunft passiert sein. Als ob sie gewusst hätten, dass ihnen jemand auf den Fersen war.
Zum ersten Mal hatte sie Angst.
»Verdammt,« sagte sie. »Rufen Sie einen Krankenwagen. Und die Polizei.«
21. KAPITEL
Zürich
Binnen einer Stunde traf die Spurensicherung der Züricher Kantonspolizei ein und machte Fotos und Videoaufnahmen vom Tatort. Das Haus wurde auf Fingerabdrücke abgesucht, wobei man auf die Vorder- und Hintertür sowie die drei Erdgeschossfenster besondere Sorgfalt verwandte. Anna bat den Spezialisten, Abdrücke von Rossignols Rollstuhl und von allen unbedeckten Hautpartien zu machen. Bevor man die Leiche abtransportierte, wurden noch Vergleichsabdrücke von Rossignols Fingern genommen.
Hätten die Amerikaner nicht so großes Interesse an Rossignol gezeigt, dass sie sogar um seine Überwachung gebeten hatten, dann wäre Gaston Rossignols Ableben sicher als natürlicher Tod abgehakt worden. Immerhin war er einundneunzig Jahre alt gewesen.
Stattdessen wurde eine Autopsie angeordnet mit der Maßgabe, besonders auf die Augenflüssigkeit zu achten. Da es in Zürich keinen amtlichen Leichenbeschauer gab, wurden Obduktionen im Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich durchgeführt.
Anna ließ sich in ihr Hotel zurückfahren. Weil sie im Flugzeug dann doch ohne Schlaftablette ausgekommen war, hatte sie noch keine Minute geschlafen und war jetzt hundemüde. Sie zog die Vorhänge zu, schlüpfte in ein übergroßes T-Shirt und legte sich ins Bett.
Das Klingeln des Telefons riss sie aus dem Schlaf. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie realisierte, dass es nicht mitten in der Nacht war und dass sie nicht in ihrem Bett in Washington lag, sondern in einem Züricher Hotel. Auf dem Leuchtzifferblatt ihrer Armbanduhr sah sie, dass es halb drei nachmittags war. Sie hob den Hörer ab.
»Spreche ich mit Miss Navarro?«, fragte eine Männerstimme.
»Ja«, krächzte sie und räusperte sich kurz und fragte dann: »Wer sind Sie?«
»Ich bin Kommissar Schmid von der Kantonspolizei Zürich. Morddezernat. Entschuldigung, habe ich Sie geweckt?«
»Nein, nein. Ich war nur etwas eingenickt. Was gibt’s?«
»Die Auswertung der Fingerabdrücke hat einige interessante Ergebnisse
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